Wolfs Lied
von Inken Kahlstorff
Wolf sah an
sich herab. Irgendwas war ja immer.
Aus der Tasche seines Sakkos lugte das rote Einstecktuch.
Vor ihm auf dem Klavier lagen die Noten.
Er neigte den Kopf und spähte unters Klavier.
Selbst die Spitzen seiner Lackschuhe glänzten.
Wolf fasste sich an den Kragen und zupfte seine Fliege zurecht.
Nein, alles gut.
Heute traf es
Harald. Den Gitarristen.
Auf der Treppe zur Bühne war ihm die Brille von der Nase gerutscht.
Das Glas hatte nun einen Sprung.
„Macht nichts“, hatte Harald gesagt und auf die Noten gelinst.
„Ich kenne die Akkorde auswendig.“
Viele Akkorde spielten sie eh nicht.
Neben Harald
stand Günther.
Seinen Bass hielt er fest umklammert. Das Lampenfieber!
Vor Auftritten war Günther immer so aufgeregt.
Vor diesem besonders.
Dabei war Günther doch Profi.
„Lampenfieber wie ein Profi“, witzelte Harald jedes Mal.
Am anderen
Ende der Bühne trommelte Dieter mit den Stöcken auf seine Knie.
Der Schlagzeuger hielt seine Hände nie still.
Wolf wusste nicht, ob Dieter leise übte oder tatterte.
Dieter war tatterig und tüdelig.
Mal trug er links eine Socke mit Streifen und rechts eine blaue.
Oft vergaß Dieter auch Proben. Nur seine Stöcke vergaß er nie.
Vorne auf
der Bühne stand Hilde am Mikro.
Ihr Kleid war fast so rot wie die Einstecktücher und Fliegen der Männer.
Hildes Idee. „Das Auge hört mit“, meinte sie.
Hilde hatte früher in einer großen Firma gearbeitet und wusste Bescheid.
„Das Outfit gehört zu einer Band wie die Noten auf den Ständer“, meinte sie.
„Das Aut…was?“,
hatte Günther gefragt. „Das heißt Klamotten!“
Der Bassist war strikt gegen englische Wörter.
Neumodischer Krams, fand er.
Gegen den Namen der Band war Günther auch: Wolf and the Gang.
Aber Wolf und die Gang hatten ihn überstimmt.
Seither sagte Günther extra englisch: „Wuulv änd ze Gääng.“
Wolf hieß
eigentlich Wolfgang.
Und Harald, Günther, Dieter und Hilde waren seine Gang.
Das hatte Ilse immer gesagt: „Deine Gang.“ Und gelächelt.
Seine Frau war sein größter Fan gewesen.
„Fään“ würde Günther sagen.
Natürlich
war Ilse auch Fan ihrer Söhne.
Die beiden spielten in einer Hardrock-Band.
Eines Abends auf Besuch hatten sie erzählten, dass sie einen Keyboarder
suchten.
„Kii…wie?“, hatte Wolf gefragt, nur halb Ohr.
Seine Söhne verdrehten die Augen. „Keyboard wie Klavier, Papa!“
Im Scherz sagte Wolf: „Klar, Klavier! Ich bin euer Mann an den Tasten!“
Ilse und die Söhne lachten.
Den ganzen Abend lang klopften sie Sprüche wie:
„Du hast wohl nicht mehr alle Tasten im Schrank!“
Die Söhne fanden
bald eine Keyboarderin.
Und Wolf vergaß den Scherz und die Sprüche.
Doch zum Geburtstag schenkten ihm Ilse und die Söhne ein E-Piano.
Da musste Wolf lachen.
Noch am selben Tag stellten sie das kleine elektronische Klavier auf.
Sie standen am E-Piano im Wohnzimmer und sangen:
„Wie schön, dass du geboren bist.“
Anfangs klang es komisch und schief.
Da lachten sie alle.
Seitdem spielte
Wolf jeden Tag.
Seine Finger flogen immer flinker über die Tasten.
Am liebsten mochte er die alten Schlager.
Die Lieder, die Ilse und er gehört hatten, als sie sich kennenlernten.
Wenn Ilse Wolfgang spielen hörte, kam sie ins Zimmer und wiegte die Hüften im
Takt.
„Weißt du noch …?“, sagte sie und lächelte.
Damals hatten sie ganze Nächte in den Tanzcafés verbracht.
Beim Tanzen waren sie sich zum ersten Mal begegnet.
„Ihre Fliege sitzt schief“, hatte Ilse gesagt.
Frech fasste sie Wolf unters Kinn und gab der Fliege einen Stups.
Wolf und llse tanzten bis in den Morgen.
Bald darauf
hatten sie geheiratet.
Manchmal neckte ihn Ilse. Sie nannte ihn „meine schräge Fliege“.
Auch gelächelt hatte sie viel in all den Jahren.
Nur tanzen gingen sie selten.
Die Arbeit, der Haushalt, die Söhne: der Alltag.
Ihre Zeit war knapp.
Ilse war es
auch, die Wolf von dem Klavier im Gemeindehaus erzählte.
Ein Flügel, wie damals in den Tanzcafés, stand dort!
Im Gemeindehaus traf Wolf dann Harald, den Gitarristen.
Harald hatte
als Rentner seine alte Gitarre vom Dachboden geholt.
Wenn er zu Hause spielte, klagten die Nachbarn über den Krach.
„Krach!“, wiederholte Harald und schüttelte den Kopf.
Im Gemeindehaus beschwerte sich niemand.
Harald liebte wie Wolf die alten Schlager.
Sie spielten zusammen.
Manchmal kam
Hilde, Haralds Frau, zu den Proben.
Sie wollte Harald und Wolf lauschen.
Leise summte Hilde die Melodien.
Irgendwann sagte Hilde: „Ihr braucht einen Bassisten. Ich kenne einen.“
Günther. Früher hatte Günther Musik auf Kreuzfahrtschiffen gemacht.
Dort musste er immer die neuesten Hits spielen.
Vielleicht mochte er deshalb kein Englisch.
Zur See fuhr er nicht mehr. Aber seinen Bass spielte er noch.
Bei den Proben
murmelte Günther manchmal komische Worte.
Zum Beispiel „Triole“.
Wolf und Harald sahen ihn fragend an.
Günther seufzte.
Hilde erklärte: „Triole ist eins, zwei, drei.“
Günther seufzte noch lauter: „Eins, zwei, drei. Tje!“
Und irgendwann sagte Günther: „Wir brauchen einen Schlagzeuger.“
Dieter, den
Drummer, hatten sie über eine Anzeige gefunden:
„Rüstige Rentner suchen rockenden Schlagzeuger.“
Eine Pflegerin aus dem Altenheim rief bei ihnen an:
„Dieter ist so zappelig. Er braucht was zu tun.
Dieter redet nicht viel. Aber seine Tochter sagt:
Dieter ist Schlagzeuger.“
Die Pflegerin brachte Dieter zur Probe ins Gemeindehaus.
Dieter sagte kein Wort.
Er hockte sich gleich auf den Schemel ans Schlagzeug.
„Tak, tak, tak“, schlug Dieter seine Stöcke aneinander.
„Triole!“, raunte Harald.
Dann spielten sie los.
An Dieters Hemd war unten ein Knopf über und oben stand ein Loch leer.
Doch keiner sah das hinter den Trommeln und Becken und fliegenden Stöcken.
Wolf,
Harald, Günther und Dieter spielten die alten Lieder.
Auf einmal sang Dieter:
„Für mich soll’s rote Rosen regnen.“
Er rollte das R so schön. Seine Stimme war tief und mächtig.
Aber der Rhythmus rann aus der Rille.
Hilde schloss die Augen und sang das Lied zu Ende:
„Mir sollten sämtliche Wunder begegnen.“
Seitdem gehörte Hilde zur Gang.
Dieter verboten sie das Singen.
Das erste
Mal traten Wolf and the Gang auf dem Gemeindefest auf.
Dann auf Günthers Geburtstag.
Auf der Goldenen Hochzeit von Harald und Hilde.
Auf der Party von Freunden. Auf dem Straßenfest.
Und irgendwas war immer.
Auf dem Gemeindefest waren es Dieters gemischte Socken.
Auf Günthers Geburtstag eine gerissene Saite.
Auf der Hochzeit fiepten die Boxen.
Auf der Party fehlte ein Mikro.
Auf dem Straßenfest wehte der Wind die Noten vom Ständer.
Und immer
war Ilse dabei.
Wolfs erster und größter Fan.
Manchmal auch die Söhne.
Wolf and the Gang spielten die ganze Nacht.
Die Freunde tanzten und sangen.
„Deine Gang. Unsere Lieder. Meine schräge Fliege“, hatte Ilse gesagt und
gelächelt.
Dann kam der
Krebs.
Ilse war tot.
Auf der Beerdigung spielten Wolf and the Gang.
Sie spielten die ganze Nacht.
Die Freunde tranken und tanzten.
Diesmal sang auch Dieter, der Drummer.
Von Rosen und Wundern.
Doch der Takt war vertüdelt.
Wolf übte
weiter zu Hause am E-Piano.
Niemand wiegte die Hüften.
An seinem Geburtstag kamen die Söhne.
Sie sangen Lieder und lachten: Unser Mann an den Tasten.
Auch Wolf
and the Gang spielten weiter.
Auf Feiern und Festen.
In der Nachbarstadt.
Mal klemmten die Tasten am Klavier.
Mal fehlte ein Einstecktuch.
Jedes Mal hatte Günther Lampenfieber.
Und immer tanzten die Menschen.
Heute
spielten sie in einem Kurort an der See.
Die Bühne war größer denn je.
So viele Zuschauer gab es noch nie.
Die Sonne schien. Zum Glück wehte kein Wind.
Wolf sah noch einmal an sich herab.
Das Tuch. Die Schuhe. Die Fliege. Seine Hände auf dem Klavier.
Vorne stand Hilde am Mikro.
Dahinter Günther am Bass.
Neben ihm Harald mit der Gitarre und der gesprungenen Brille.
Am Schlagzeug saß Dieter.
„Tak, tak, tak“, schlug er die Stöcke.