Wettbewerb: Unsichtbar Vorlesen

09. Feb 2021Diane Henschel
Die Kunst der Einfachheit, Foto: Volker Wartmann

Unsichtbar

von Diane Henschel

Von 6 Uhr bis 15 Uhr bin ich unsichtbar.
Jede Woche von Montag bis Freitag.
Ich gehe durch meinen Super∙markt.
Ich schaue auf meine Hände.
Ich schaue auf die Dose in meiner Hand.
Ich schaue ins Regal.
Dose ins Regal.
Eine Dose neben die andere.
Bild nach vorne drehen.
Das sieht gut aus.
Dann die nächste Dose greifen.

Still bin ich.
Schaue niemandem in die Augen.
So bleibe ich unsichtbar.

Harte schnelle Schritte nähern sich dem Gang mit den Dosen.
Es riecht nach Lakritz.
Ich stehe starr da.
Lausche, warte.
Die Schritte werden leiser.
Ich atme aus.
Glück gehabt.

Ich will mich freuen.
Aber es klappt nicht.
Johanna, sage ich mir.
Johanna, du bist unsichtbar.
Der Wagner hat dich vergessen.

Der Herr Wagner mit den feuchten Händen.
Herr Wagner, mein Kollege.
Herr Wagner grabscht jetzt die Neue an.
Der flüstert der Neuen Sex∙worte in den Nacken.

Die Neue
Nina ist jünger als ich.
Sie hat gerade erst mit ihrer Lehre angefangen.
Am ersten Arbeits∙tag hat sie noch gelacht.
2 tiefe Grübchen hat sie.
Die Grübchen habe ich seitdem nie wiedergesehen.

Am Anfang ist Nina mit leuchtenden Augen durch die Gänge gestürmt.
Wollte alles wissen.
Wollte alles lernen.
Jetzt schleicht sie durch die Gänge.
Nina will unsichtbar sein wie ich.
Aber der Wagner findet sie.

Mit Flocke beginnt das Leben
Feierabend.
Raus aus dem Super∙markt.
Rein in den Bus.
2 Stationen und schon bin ich zuhause.
Ich klingle bei Frau Hansen.
Frau Hansen passt auf Flocke auf.
Kaum ist die Tür auf, springt Flocke an mir hoch.
Flocke drückt mir ihre weiche Schnauze in die Hand.
Und ich bin wieder sichtbar.
Bin wieder da.
Lebe.

„Danke Frau Hansen, bis morgen dann.“

Schon greife ich die Leine und laufe mit Flocke los.
Eine Runde durch den Park.
Dann zum Spielplatz.
Flocke schiebt ihre Schnauze durch eine Lücke im Zaun.
Sofort kommen die Kinder.
Die meisten kennen Flocke schon.
Sie kennen sich aus.
Aber ich passe trotzdem auf.

„Langsam“, sage ich.
„Einer nach dem anderen.“

Ein kleiner Junge streckt Flocke die Hand hin.
Flocke schnuppert an der Hand.
Sie wedelt mit dem Schwanz und winselt ungeduldig.
Ich nicke und sage zu dem Jungen:
„Jetzt darfst du sie streicheln.“

Ich schaue zu.
Und langsam steigt ein Lachen in mir hoch.
Jetzt ist der Tag wieder mein Tag.

Eine lange Nacht
Nachts wache ich mit einem bitteren Geschmack im Mund auf.
Ich habe von Nina geträumt.
Im Traum sitzt Nina im Kühl∙regal zwischen bunten Joghurt∙bechern.
Auf ihren schwarzen Locken liegt Schnee.

Ich kann nicht mehr einschlafen und gehe in die Küche.
Flocke liegt auf dem Küchen∙stuhl und hebt träge den Kopf.
Ich schütte Milch in einen Topf, rühre Kakao und etwas Zucker hinein.
Dampf steigt aus dem Topf auf und vertreibt den Traum.
Der Kakao ist wunderbar heiß und süß.
Mit jedem Schluck fühle ich mich stärker.
Ich will nicht mehr unsichtbar sein.

Was tun?
Ich stelle mir vor:
Ich starre den Wagner nieder.
Mit meinem Blick bringe ich ihn zum Zittern.
Er schrumpft und schrumpft.
Und am Ende liegt da ein klägliches Häuflein Lakritz.

Aber leider habe ich keine Super∙kräfte.
Und Worte sind auch nicht so mein Ding.
Der Wagner dagegen, der kann reden.
Macht große Sprüche.
Unterbricht jeden und jede.

Was kann ich also tun?
Ich muss meine Gedanken laut ausgesprochen haben.
Denn Flocke setzt sich aufrecht hin.
Stellt die Ohren auf und schaut mich aufmerksam an.

„Genau, Flocke“, sage ich.
„Aufpassen muss ich jetzt.
Den richtigen Moment erwischen muss ich.
Und hoffentlich kommen dann die richtigen Worte.“

Aufgepasst
Ein neuer Tag.
Hellwach bin ich.
Alle Sinne habe ich angespannt.
Ich packe Schoko∙riegel ins Regal.
Dabei achte ich auf jedes Geräusch.
Weit entfernt piepsen die Kassen.
Ganz in der Nähe hopst ein Kind durch den Gang.
Irgend∙jemand hustet.
Wo ist Nina?
Wo ist Herr Wagner?

Nina zu hören, ist schwer.
Sie bewegt sich leise.
Aber ich habe Glück.
Räder rollen quietschend vorbei.
Nina schiebt einen prall gefüllten Wagen mit Essig∙flaschen.
Der Essig steht 3 Gänge weiter.
Da wird sie die nächste halbe Stunde arbeiten.

Mein Wagen mit den Schoko∙riegeln ist fast leer.
Gleich muss ich ins Lager und neue Waren holen.
Schlecht.
So verpasse ich vielleicht den richtigen Moment.
Lass dir Zeit, Johanna, rede ich mir zu.
Mach langsam.

Harte schnelle Schritte.
Es riecht nach Lakritz.
Ich blicke vorsichtig auf.
Das war er, der Wagner.
Ich kann gerade noch seinen Hinter∙kopf sehen.
Dann ist er schon weiter.
Leise trete ich aus dem Gang heraus.

Ein Kunde spricht mich an:
„Wo ist denn hier das Back∙pulver?“
Ich schrecke zusammen.
„Nächster Gang, links“, krächze ich.
Dann wende ich mich nach rechts und folge Herrn Wagner.

Vorm Essig-Öl-Gang bleibe ich stehen.
Ich zittere.
Bis eben habe ich mich wie eine Detektivin gefühlt.
Wollte den richtigen Zeit∙punkt erwischen.
Wollte Herrn Wagner erwischen.
Jetzt bin ich nur noch Johanna.
Johanna mit lautem Herz∙schlag und kalten Händen.

Noch ein Schritt.
Ich schaue in den Gang.
Da stehen sie.
Herr Wagner dicht hinter Nina.
Nina mit hochgezogenen Schultern und gesenktem Kopf.

Wut steigt in mir auf.
Eine Wut, die mich ruhig macht.
Eine Wut, die mir klare Gedanken gibt.
„Herr Wagner“, sage ich.
„Herr Wagner, ich kann Sie sehen.“

Herr Wagner starrt mich an.
Sein Gesicht wird rot.
Er schnappt nach Luft.
Gleich schreit er los, denke ich.
Aber er schluckt nur, dreht sich um und geht.

Nina richtet sich langsam auf.
Sie blickt mich an.
Sie lächelt.
Ich kann ihre Grübchen sehen.
Und ich denke:
Jetzt sind wir zu zweit.

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1Kommentar

  • Chris
    11.02.2021 08:13 Uhr

    Schön finde ich an dieser Geschichte, dass sie so zart daher kommt und trotzdem das Thema Belästigung sehr deutlich macht, ohne direkt belehren zu wollen, einfach vom Erlebnis der Protagonistinnen aus geschildert.

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