Schokolade an Weihnachten
von Andrea Halbritter
Ich laufe mit
meiner Tochter zum Strand.
Sie ist 10 Jahre alt und heißt Klervi.
Klervi ist bretonisch und bedeutet Schmuckstück.
Wir leben in der Bretagne.
Das ist in West-Frankreich.
Früher hat man in der Bretagne überall Bretonisch gesprochen.
Heute spricht man dort kaum noch Bretonisch.
Die Menschen unterhalten sich auf Französisch.
Auf unserem Weg an den Strand kommen wir an vielen kleinen Häusern vorbei.
In den Vorgärten stehen kleine Palmen.
Manche von den Palmen sind mit roten Kugeln oder Lichtern geschmückt.
Es ist der Tag vor Weihnachten.
Die letzten Tage hat es viel geregnet.
Überall auf der Straße sind kleine und große Pfützen.
Wind pfeift uns um die Nasen.
Aber uns ist nicht kalt.
Wir haben dicke Mäntel an und eine warme Mütze.
Um unseren Hals haben wir einen warmen Schal gewickelt.
Der von meiner Tochter ist pink und lila.
Das sind ihre Lieblings-Farben.
Meiner ist grau.
Grau wie der Asphalt, wenn er trocken ist.
Heute ist er ganz nass.
Am Strand finden wir einen dünnen Ast.
Mit dem Ast zeichnen wir deutsche Wörter in den nassen Sand:
Tannenbaum.
Geschenke.
Plätzchen.
Adventskranz.
Wir haben viel Spaß.
Die Wellen kommen gleichmäßig am Strand an.
Dabei rauschen sie und sind ziemlich laut.
Klervi hat Hunger.
Sie will wieder nach Hause.
Dort warten ein Apfel-Kuchen auf uns und heißer Kakao.
Auf dem Rückweg sehen wir einen Mann.
Er sitzt auf einem großen Stück Plastik auf dem Boden.
Der Mann hat keinen Kuchen und keinen Kakao.
Der Mann hat sich auch ganz warm eingepackt:
Er hat mehrere dicke Jacken an und wahrscheinlich auch mehrere Hosen.
Und er hat eine große schwarze Mütze auf.
Seine Haut ist ganz braun gebrannt.
Hinter dem Mann steht ein kleines Zelt.
Das Zelt sieht ziemlich nass aus.
Wir gehen an dem Mann vorbei und sagen nichts.
Es ist der Tag vor Weihnachten.
Zuhause warten ein Apfel-Kuchen und Kakao auf uns.
Meine Tochter sagt zu mir: "Hast du den Mann auch gesehen?"
Wir gehen zurück.
Ich sage: "Hallo. Wir haben Kuchen gebacken. Möchten Sie auch ein
Stück?"
Der Mann schaut uns an: "Hallo. Gerne. Kuchen habe ich schon lange nicht
mehr gegessen."
Wenig später kommen wir mit dem Kuchen zurück und unterhalten uns mit dem Mann.
Er lebt schon 20 Jahre auf der Straße.
Er hat viele Länder bereist:
in Europa und auch in Süd-Amerika.
Seit kurzem ist er wieder in Frankreich.
Dort sucht er seinen Bruder.
Der Bruder hat früher in der Bretagne gelebt.
Vielleicht ist er noch dort.
Der Mann weiß es nicht.
Er hofft, dass er ihn irgendwo findet.
"Wir haben auch warmen Tee dabei. Möchten Sie eine Tasse?"
Der Mann wärmt sich die Hände am Tee.
"Es ist schon lange her, dass sich jemand mit mir unterhalten hat.
Meistens laufen die Leute nur an mir vorbei."
Ich sage: "Morgen ist Weihnachten."
Der Mann sagt: "Ich weiß."
"Wenn Sie
möchten, bringen wir Ihnen morgen etwas von unserem Weihnachts-Essen
vorbei."
Die Augen von dem Mann leuchten:
"Etwas Warmes zu essen an Weihnachten wäre toll."
"Was würde Ihnen denn sonst noch eine Freude machen?"
"Schokolade. Ich habe schon lange keine Schokolade mehr
gegessen."
Am nächsten Tag kommen wir mit dem Essen vorbei.
Wir haben Huhn dabei und Bratkartoffeln.
Und eine Thermos-Kanne mit Kaffee haben wir auch.
Und natürlich Schokolade.
Zwei Tage später ist der Mann weg.
Ob er seinen Bruder gefunden hat?
Wir wissen es nicht.
Andrea Halbritter lebt in Bayern und in der Bretagne. Sie ist Romanistin und Germanistin und vom Netzwerk Leichte Sprache zertifiziert. Sie arbeitet als Übersetzerin vom Französischen ins Deutsche und erstellt Texte in Leichter und Einfacher Sprache hauptsächlich für Gedenkstätten, Politiker:innen, Museen und für den Gesundheitsbereich.