Wettbewerb: Mutig sein. Stark sein. Vorlesen

28. Jan 2021Andrea Hundsdorfer
Die Kunst der Einfachheit, Foto: Volker Wartmann

Mutig sein. Stark sein.

von Andrea Hundsdorfer

Er ist mindestens vier Jahre älter und zwei Köpfe größer als Merle. Und er ist wütend, verdammt wütend sogar. Seine Hände hat er zu Fäusten geballt. Bereit, jeden Moment damit zuzuschlagen. Sein breites Kinn hat er weit nach vorne geschoben. Seine Augenbrauen treffen sich fast oberhalb der Nase. Eine tiefe Furche zieht sich über seine Stirn, auf der ein riesiger Pickel knallrot leuchtet. Er starrt Merle böse an und sie möchte am liebsten weglaufen.

Trotzdem sagt sie: „Nein!“

Merle sagt es deutlich. Sie sagt es laut, mit fester Stimme. Da ist kein Zittern. Da darf kein Zittern sein. Das hatte die Leiterin des Selbstverteidigungskurses in der Schule gesagt. Sagt laut und deutlich nein, lautete ihre Anweisung. Das hat Merle sich gemerkt. Sie hat gehofft, es niemals sagen zu müssen. Aber heute muss es sein. Heute darf Merle nicht ängstlich sein. Heute muss sie stark und mutig sein. Nicht nur für sich, sondern für ihre Klassenkameradin.

Denn hinter ihr steht Saria, die Neue. Das Mädchen aus dem fernen Land. In dem es für Mädchen verboten ist, zur Schule zu gehen. In dem es nicht mehr sicher ist, ganz egal wie mutig und stark man ist. Und so wurde sie von ihrer Familie auf den Weg geschickt. Über das Meer. In einem Boot das über den Wellen schaukelte. Doch Saria hat es geschafft und eine lange Reise hinter sich.

Saria mit den dunklen fast schon schwarzen Augen und den glänzenden langen Haaren. Die sieht man nicht, denn sie sind unter einem bunten seidigen Tuch versteckt. Merle weiß nur, dass sie schwarz sind, weil Saria sie ihr gezeigt hat. Ganz heimlich und auch nur ganz kurz. Gerade eben erst, nach dem Sportunterricht. Als alle anderen schon weg waren und nur sie beide noch im Umkleideraum standen. Merle hatte gestaunt, wie lang Sarias Haare waren. Saria hatte gelächelt und sich gefreut, dass Merle so begeistert von ihren Haaren war. Dann hatte Saria aber schnell wieder das Tuch über ihren Kopf gewickelt. Ihre Augen jedoch hatten immer noch gestrahlt und sie hatte gelacht.

Bis sie aus der Turnhalle herauskamen und plötzlich der Junge aus der Oberstufe vor ihnen stand.

Nun steht Saria ängstlich zitternd hinter Merle, mit Tränen in den Augen. Die Hände hat sie fest an ihre Ohren gedrückt. Der große Junge macht Saria Angst. Deshalb muss Merle jetzt für sie mutig und stark sein. Sie weicht keinen Zentimeter zurück.

„Sie soll das verdammte Tuch abnehmen“, fordert der Junge.
„Nein“, erwidert Merle mit fester Stimme.
„Mach Platz, dann nehme ich es ihr selber ab!“
„Nein“, erwidert Merle und stemmt ihre Füße fest auf den Boden.
„GEH ENDLICH ZUR SEITE!“, schreit der Junge.
„NEIN!“, erwidert Merle genauso laut.

Aber werden ihre Worte ausreichen, den Jungen aufzuhalten? Wird er aufgeben, wenn sie sich nur lange genug wehrt? Wird er versuchen sie wegzustoßen und Saria das Tuch vom Kopf reißen? Wie lange wird ihr Mut ausreichen, ihn davon abzuhalten? Was kann sie allein schon gegen ihn ausrichten?

Jetzt bemerken die anderen Schüler auf dem Schulhof, dass etwas nicht stimmt. Sie kommen langsam näher. Erst ein nur ein paar, dann immer mehr. Plötzlich sind Merle und Saria nicht mehr allein. Ein Schüler nach dem anderen stellt sich zu ihnen. Sie bilden einen schützenden Kreis um sie.

„Sie … sie muss…“ Plötzlich klingt die Stimme des Jungen nicht mehr so laut und fordernd.
„Sie muss gar nichts“, entgegnet Merle.
„Aber …“
„Kein Aber!“, widerspricht Merle sofort.
„Das ist nicht richtig!“, beharrt er.

„Weißt du immer was falsch und richtig ist?“, fragt Merle. Einige Mitschüler kichern. Sie verstummen aber wieder, als der Oberschüler ihnen einen bösen Blick zuwirft. Es liegt immer noch eine Spannung in der Luft, die fast greifbar ist. Trotzdem bleiben Merle und die anderen standhaft. Sie werden nicht nachgeben. Nicht jetzt, nicht hier. Saria soll merken, dass sie willkommen ist. Hier an der Schule, hier in diesem Land.

Und endlich gibt der Oberschüler auf. Merle hat den langsamen Wandel in seinem Verhalten bemerkt. Die Furche von der Stirn ist verschwunden. Das Kinn ist wieder da, wo es hingehört. Die Fäuste sind zwar noch geballt, pendeln aber ziellos neben seinem Körper. Dann endlich dreht er sich um. Mit einem wütenden „Ihr könnt mich alle mal!“ zieht er ab.

Sarias Tränen versiegen und ein scheues Lächeln kehrt zurück in ihr Gesicht. Sie fasst Merles Hand und drückt sie leicht. Begleitet von ihren Mitschülern gehen Merle und Saria zum Schulbus. Von nun an wird Saria nicht mehr allein sein. Merle und ihre Schulkameraden werden gemeinsam für sie stark und mutig sein.

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