Lucy Zauberschuh
von Almut Anders
Lucy ist
mega-aufgeregt.
Im Schlafanzug rennt sie in die Küche.
„Alles Liebe zum Geburtstag“, mein Schatz, sagt Mama.
Sie küsst Lucy auf die Wange, dass es nur so schmatzt.
Auf dem Küchentisch stehen ein Strauß gelber Narzissen und ein
Geburtstagskuchen mit Schokoguss.
Daneben liegt ein Päckchen.
Lucy reißt das
Geschenkpapier auf.
Die bunten Schnipsel fliegen auf den Küchenfußboden.
Lucy hält kurz die Luft an.
Dann öffnet sie die Schachtel.
„Oh“, macht Lucy.
„Zieh sie doch gleich
mal an“, sagt Mama.
Lucy schlüpft in die lila Sneakers mit goldenen Herzen.
Sie guckt an sich runter.
„Na?“, fragt Mama.
„Mega-cool“, sagt Lucy.
Dann pustet Lucy 14
Kerzen auf ihrem Geburtstagskuchen aus. Sie schließt die Augen, so fest sie
kann.
Beim Wünschen muss man die Augen schließen,
damit der Wunsch auch in Erfüllung geht.
Lucy weiß genau, was
sie sich wünscht.
Obwohl ihr klar ist, dass es schwierig wird mit ihrem Wunsch.
Oder sogar unmöglich.
Wünschen kann sie es trotzdem.
So wie letztes Jahr.
Und im Jahr davor.
Lucy blinzelt ihre
Tränen weg.
Sie guckt aus dem Küchenfenster.
Draußen ist Frühling.
Die Sonne scheint.
Die Bäume im Hof haben hellgrüne Knospen.
Draußen ist Frühling.
Der Himmel leuchtet blau.
Lucy spürt sogar ein
klitzekleines Sommer-Feeling.
Und wenn sie noch tiefer in sich hineinhorcht,
sind da auch Herbst und Winter.
Alles ist ein bisschen durcheinander in Lucy.
Mama sagt Pubertät dazu.
Lucy nennt es ihren inneren Klimawandel.
„Es wird Zeit für
mich“, sagt Mama.
Sie trinkt ihren Kaffee aus und geht zur Arbeit.
Lucy hat Ferien.
Sie isst noch ein Stück Schokoladenkuchen.
Die Sneakers leuchten lila und die Goldherzen glitzern.
Mama hat die Sneakers selbst gefärbt und mit Strass beklebt. Lucy hätte lieber
gekaufte Sneakers.
Aber das kann sie Mama nicht sagen.
Dann bekommt Mama eine
Krise.
Dann geht bei Mama das Licht aus.
Dann ist sofort Winter in Mamas Herz.
Dann wird es düster und kalt um sie herum.
Lucy versteckt ihre
Enttäuschung über die selbstgemachten Sneakers, solange Mama hinguckt.
Das hat sie in den letzten 2 Jahren gelernt.
Aber jetzt ist Mama weg und Lucy kann die Sneakers kindisch finden.
Wer trägt denn mit 14 noch selbstgefärbte Sneakers?
Außer ihr bestimmt kein Mensch auf der ganzen Welt.
Lucy sieht schon, wie
die anderen Mädchen sie auslachen.
Vor allem Greta.
Greta ist das coolste Mädchen in ihrer Klasse.
Sie trägt hippe Klamotten und angesagte Marken-Sneakers.
Der Frühlingsmorgen in Lucy bekommt einen dicken Kratzer.
Das geht in Richtung
Herbst auf ihrem Stimmungsbarometer. Spätherbst, um genau zu sein.
Schlammig und grau schnappt er nach Lucy.
Aber Lucy macht nicht mit.
Sie lässt es einfach nicht zu.
Heute klappt es.
Heute hat sie Geburtstag.
Sie ist 14. Sie hat schulfrei.
Heute kann bloß Frühling sein.
Drinnen in Lucy und draußen am Himmel.
Lucy stellt sich vor
den Spiegel.
Die Sneakers sind wirklich schön.
Für ein Kind sind sie perfekt.
Mama hat sich echt Mühe gegeben.
Nächste Woche geht die
Schule wieder los.
Lucy kann unmöglich mit diesen Baby-Sneakers hingehen.
Da hat sie hat eine Idee.
Wenn Mama hinguckt, wird sie die Sneakers morgens anziehen. Und ehe sie in die
Schule reingeht,
zieht sie die alten Sneakers an.
Die sind zu klein und die Sohle ist kaputt.
Aber immer noch besser als lila Kinderschuhe mit goldenen Herzen.
Genau so wird Lucy das
machen.
Greta kann sie mal.
Sie wird ihr keinen Anlass geben,
über sie oder Mama zu lachen.
Lucy hat wieder den Frühling im Bauch.
Es singt und klingt wie Vogelzwitschern.
Mama wird glauben,
dass Lucy die lila Sneakers cool findet. Mama braucht das.
Sie hat genug Sorgen,
da will Lucy ihr keinen Kummer machen.
Seit 2 Jahren ist bei Mama ziemlich oft Winter.
Manchmal bleibt sie
den ganzen Sonntag im Zimmer.
Erst abends kommt sie wieder raus.
Dann nimmt sie Lucy in den Arm.
Dann küsst sie Lucy auf die Wange, dass es nur so schmatzt. Dann geht sie in
die Küche und macht Kartoffelpuffer mit Apfelmus, Lucys Lieblingsessen.
Neulich hat Lucy eine
Scheibe gebastelt.
Darauf hat sie die vier Jahreszeiten gemalt.
Für den Frühling hat sie himmelblau und knospengrün genommen.
Der Sommer ist tomatenrot und sonnengelb.
Der Herbst kastanienbraun und schlammgrau.
Und der Winter ist matschgrün und wolkenschwarz.
Mitten auf der Scheibe
hat sie zwei Zeiger befestigt,
wie bei einer Uhr.
Einen Zeiger für sie, den anderen für Mama.
Seitdem stellen sie morgens ihre Gefühle-Uhr.
So nennt Lucy die Scheibe.
Dann wissen beide, wie sich die andere gerade fühlt.
Heute haben Mama und
Lucy dieselben Gefühle.
Beide Zeiger stehen auf Frühling.
Und wenn es nach Lucy geht, kann das so bleiben.
Das mit den
Jahreszeiten ist eine Geschichte von früher zwischen Mama und Lucy.
Als Papa noch lebte, haben sie damit angefangen.
Damals haben sie vom Wetter geredet,
wenn sie über Papa sprachen.
Wenn Mama sagte: „Heute ist es wintergrau“,
meinte sie, dass es Papa schlecht geht.
Papa war sehr krank.
Lucy glaubt bis heute,
dass Papa trotzdem genau wusste,
was mit ihm los war.
Und er wusste auch,
dass sie und Mama es wussten.
Lucy hat mitgemacht
damit Mama weniger traurig ist.
Als Lucy neulich die
Scheibe im Flur aufgehängt hat,
hat Mama sie auf die Wange geküsst,
dass es nur so schmatzte.
Hinterher hat sich Lucy den Lippenstift abgewischt.
Lucy wird Mama mal sagen,
dass sie keine Wangenküsse mehr mag.
Mit 14 kann man das, findet Lucy.
Vielleicht sollte Lucy
ihr auch sagen,
dass selbstgemachte Geschenke manchmal uncool sind.
Aber das hebt sie sich besser auf, bis sie 15 ist.
Lucy geht in den neuen
Sneakers runter auf die Straße.
Mama wird später fragen, was sie so gemacht hat den Tag über.
Besser, Lucy übt gleich mal.
Bestimmt gucken alle,
wenn sie mit diesen albernen Kinder-Sneakers herumläuft.
Bestimmt denken alle, sie ist höchstens 12.
Besser jetzt, als nächste Woche,
wenn die Schule wieder losgeht.
Lucy betrachtet sich
in der Fensterscheibe vom Supermarkt. Bei jedem Schritt blinkt es lila und
golden.
Zum Glück ist gerade wenig los auf der Straße.
Eine Frau mit Kinderwagen guckt auf Lucys Füße und lächelt.
Der Postbote grüßt sie freundlich.
Er hat keinen Blick
für Lucys Schuhe.
Männer sehen so etwas nicht, sagt Mama.
Ob das stimmt?
Papa hätte die neuen Sneakers sofort bemerkt, denkt Lucy. Aber Papa war ja auch
nicht irgendein Mann.
Er war Papa.
Und sicher hätte er ihr die teuren Marken-Sneakers gekauft.
Lucy wirft einen
letzten Blick auf ihr Spiegelbild im Supermarkt-Schaufenster und geht weiter.
Sollen die Leute doch glotzen.
Heute ist sie vor den Mädchen aus ihrer Klasse sicher.
Vor allem vor Greta.
Die Luft ist warm.
Die Blüten an den Sträuchern duften süß.
Lucy atmet den Frühling tief in sich ein.
„Lucy!“, ruft da
jemand.
Lucy dreht sich um und sieht in das lachende Greta-Gesicht. Greta sieht immer
aus wie Sommer.
Kein Wunder. Greta ist hübsch und alle mögen sie.
Lucy ist sprachlos. Ihr Mund bleibt weit offen stehen.
Sofort kommt ein Schwall Winterluft hinein,
obwohl doch Frühling ist.
Lucy schluckt die Kälte runter.
Es schmeckt nach altem Schnee.
„Hey“, sagt Greta und
guckt auf Lucys Sneakers.
„Hey“, sagt Lucy und guckt in Gretas Gesicht.
„Coole Farbe“, sagt Greta.
„Geburtstagsgeschenk von meiner Mama“, sagt Lucy.
Sie dreht den linken Fuß hin und her.
Die Herzen glitzern.
Auf einmal sind ihr die Sneakers überhaupt nicht mehr peinlich.
Der olle Schneegeschmack im Mund verschwindet.
Soll Greta doch von ihr denken, was sie will.
„Herzlichen
Glückwunsch“, sagt Greta. „Jetzt bist du schon 14!“
„Ja“, sagt Lucy und fühlt sich mega-erwachsen.
„Du Glückliche, ich muss noch 3 Monate warten“, sagt Greta. Sie verzieht ihr
hübsches Gesicht.
„Meine Mutter macht übrigens nie etwas selbst. Sie kauft sogar den Kuchen“,
sagt sie.
Lucy staunt. So hat
Greta noch nie mit ihr geredet.
Eigentlich haben sie überhaupt noch nie miteinander geredet.
Arme Greta. Gekaufter Geburtstagskuchen!
Aber das sagt Lucy natürlich nicht laut.
Sie denkt an Mamas leckeren Kuchen mit dem dicken Schokoguss.
Eigentlich hat sie ziemlich viel Glück mit Mama.
Greta guckt auf ihr Handy.
„Ich muss los“, sagt sie. „Meine Oma wohnt da drüben.
Sie ist fast blind. Ich lese ihr heute aus der Zeitung vor.“
Lucy sieht in Gretas Augen.
Darin bemerkt sie einen Streifen wintergrau. Lucy kennt das.
Trotz der hippen Klamotten und den Marken-Sneakers und dem Sommer-Lachen sorgt
sich Greta um ihre Oma.
So wie Lucy sich früher um Papa gesorgt hat.
„Möchtest du nachher
ein Stück Kuchen“, fragt Lucy. „Wir können uns auf den Spielplatz setzen.“
Greta lächelt ihr schönes Sommer-Sonnen-Lächeln.
„Oh, sehr gerne“, sagt sie. „Um 4 Uhr?“
„4 Uhr passt super“, sagt Lucy und geht in Richtung Wohnung. Sie wird gleich
ein paar Stücke Kuchen mehr einpacken.
Vielleicht trifft sie ja heute noch jemand.
Beim Gehen fühlt Lucy
sich leicht wie eine Wolke.
Sie schwebt beinahe über dem Boden.
Das müssen Mamas Schuhe sein.
Seit sie die
Zauberschuhe trägt, ist alles anders.
Sie denkt an Papa, ohne zu weinen.
Sie wird Mama sagen, dass sie keine Wangenküsse mehr mag. Und sie hat Greta
eingeladen,
Geburtstagskuchen mit ihr zu essen.
All das ist an einem
einzigen Tag passiert.
Wer weiß, was in Zukunft noch alles geschieht.
Manche Wünsche gehen nicht in Erfüllung. Andere schon.
Lucy findet das krass aufregend.
In
ihrem Bauch flattert es wie Schmetterlingsflügel.
Leicht und zart und wunderschön.
Es kitzelt sogar ein bisschen.
Vielleicht ist das so, wenn man erwachsen wird, denkt Lucy.
Almut Anders lebt in Berlin und am liebsten schreibt sie. Sie arbeitet auch als Übersetzerin für Leichte und Einfache Sprache. ihre Geschichten in Einfacher Sprache sollen Menschen mit und ohne Behinderung zusammenbringen. Sie sagt: Einfache Sprache ist schön! 2020 hat sie den 1. Preis der Kunst der Einfachheit gewonnen.