Hasenherz und Löwenmut
von Alexandra Lüthen
Es war einmal ein König und eine Königin.
Sie lebten in einem großen Schloss.
Sie liebten sich sehr
und bekamen drei Töchter.
Die Töchter waren schön wie die Sonne.
Sie waren stark wie eine Herde Elefanten.
Sie waren klug wie ein Schwarm Eulen.
Der König und die Königin freuten sich sehr.
Sie sagten:
„Was haben wir für ein Glück!
So schöne Töchter!
So starke Töchter!
So überaus kluge Töchter!
Lass uns ihnen Namen geben:
Prinzessin Super·schön!
Prinzessin Mega·stark!
Prinzessin Krass·klug!“
Der König und die Königin liebten sich weiter.
So be·kamen sie noch mal ein
Kind.
Einen Sohn.
Er war sehr klein.
Alles an ihm zitterte.
Von der Nase bis zum Zeh.
Hübsch war er auch nicht gerade.
Sagten die Leute.
Dem König und der Königin war das egal.
Sie liebten ihren Sohn.
Sie sagten:
„Was haben wir für ein Glück!
Wir haben diese tollen Töchter.
Und jetzt haben wir auch einen Sohn.
Wir wollen ihm einen Namen geben.“
Und dann waren sie ratlos.
Wie sollte der Junge heißen?
Prinz Zitter·nase?
Prinz Klein·gemüse?
Prinz Mause·pfötchen?
„Nein“, rief da die Königin,
„Prinz Hasen·herz soll er
heißen.“
Und so war es.
Prinzessin Super·schön,
Prinzessin Mega·stark und Prinzessin Krass·klug
wuchsen heran.
Sie wurden immer schöner, stärker und schlauer.
Und sie liebten ihren kleinen Bruder.
Prinz Hasen·herz wuchs nämlich
auch heran.
Man sah es nur nicht so gut.
Prinz Hasen·herz blieb wie er
war.
Klein und zittrig.
Er wurde auch nicht hübscher.
Aber darauf kam es nicht an.
Er war da und das genügte.
Manch·mal ging die Königs·familie auf Reisen.
Sie reisten durch´s ganze Land.
Um sich dem Volk zu zeigen.
Sie fuhren in einer prächtigen Kutsche.
Wohin sie auch kamen,
gab es ein großes
„Ah!“ und „Oh!“
„Die schönen, starken und schlauen Prinzessinnen kommen.
Was für Eltern!
Was für Töchter!
Herrlich!
Was haben wir für ein Glück mit einer solchen Königs·familie!“
Die Prinzessinnen winkten.
Und sie riefen:
„Denkt auch an Prinz Hasen·herz!“
„Ach, Prinz Hasen·herz“,
sagten die Leute.
„Was kann schon Prinz Hasen·herz?
Ihr solltet ihn zurück lassen.
Er passt nicht zu euch.
Ihr seid so schön und schlau und stark.
Ihr braucht ihn nicht.“
Prinz Hasen·herz hörte das.
Er wurde sehr traurig.
„Was nütze ich?“, fragte er die Eltern.
„Was braucht ihr mich?“, fragte er die Schwestern.
Da nahmen sie ihn in die Arme.
Weil er so klein war,
reichten sie ihn von Arm zu Arm.
Sie küssten und herzten ihn,
wie es nur Prinzessinnen können.
Da ging es ihm besser.
„Du wirst deine Aufgabe schon finden!“, sagte die Königin.
„Kein Mensch ist umsonst auf der Welt.
Da kannst du dir sicher sein.“
Die Königs·familie kehrte in
ihr Schloss zurück.
Und alles lief weiter bestens.
Dann aber zog ein Unglück herauf.
Niemand hatte mehr daran gedacht.
Aber von Zeit zu Zeit,
so alle 500 Jahre mal,
erwacht einer von den alten Drachen.
Sie leben in eiskalten Höhlen.
Tief in den Bergen.
Sie schlafen und schlafen.
Doch wenn sich zum Beispiel eine Mücke
oder eine Maus
in eine Drachen·höhle verirrt,
dann kann es ge·schehen,
dass der Drache er·wacht.
Und so war es jetzt.
Ein großer Drache zog durchs Land.
Er war aus langem Schlaf er·wacht.
Eine Mücke hatte ihn am Ohr ge·stochen.
Und das ge·fiel ihm gar nicht.
Drachen·ohren sind sen·sibel.
Wenn Drachen er·wachen,
sind sie sehr schlecht ge·launt.
Sie machen kaputt, was sie finden.
Blumen, Bäume, ganze Felder.
Sie fressen
Mäuse, Pferde und auch Menschen.
So sagt man.
Das Leid war groß im Land.
Das Volk fürchtete sich sehr.
Noch war nichts ge·schehen.
Doch der Drache brüllte vor Zorn.
Sein Feuer·atem war am Himmel
zu sehen.
Das Volk zitterte vor Angst.
Es rief den König an:
„König! Befreie uns vom großen Drachen!
Schick Deine Töchter in den Kampf!“
Denn es ist die Auf·gabe des
Königs
sein Volk zu schützen.
Die Königs·familie saß zu·sammen.
Sie hielten Rat.
Eines war klar:
Der Drache musste weg!
Die Prinzessinnen mussten ihn be·siegen.
Der König sagte:
„Meine Töchter!
Das Leben als Prinzessin ist kein Zucker·schlecken!
Ihr müsst das Volk retten!
Ihr müsst den Drachen töten!
Ihr seid schön, stark und schlau.
Ihr schafft das!
Los, los, los!“
Prinzessin Super·schön,
Prinzessin Mega·stark und Prinzessin Krass·klug
sagten erstmal gar nichts.
Es war eine ziemliche Um·stellung.
Bis jetzt war es eigentlich alles sehr schön gewesen.
So ein Königs·leben.
Von Drachen hatte keiner was gesagt.
„Hm“, sagte Prinzessin Super·schön,
„ich weiß nicht recht.
Drachen haben wenig Sinn für Schön·heit.
Ich will lieber nicht den Drachen töten.
Geh doch Du, Prinzessin Mega·stark!“
„Hm“, sagte Prinzessin Mega·stark,
„ich weiß auch nicht.
So ein Drache ist echt wahn·sinnig
stark.
Ich will lieber nicht mit ihm kämpfen.
Geh doch Du, Prinzessin Krass·klug.“
„Hm“, sagte Prinzessin Krass·klug,
„ich weiß es ausnahms·weise
auch nicht.
Drachen sind extrem schlau.
Er kann mich leicht aus·tricksen.
Ich will lieber nicht in den Kampf mit dem Drachen ziehen.
Geh doch du, äh, geh doch du, äh….“
Weiter kam sie nicht,
denn ihre Schwestern hatten ja schon gesagt,
sie würden nicht gehen.
Der König kam.
„Nun“, sagte er,
das Pferd ist ge·sattelt!
Welche von euch wird nun los·reiten?
Auf, auf, der Drache wartet schon!“
Die drei Prinzessinnen sahen sich an.
„Wir gehen nicht!“, riefen sie dann.
„Wir bleiben lieber hier.
Der Drache wird schon von alleine sterben.
Das ist nur eine Frage der Zeit.
Was gibt es heute zum Abend·brot?“
Jetzt kam auch die Königin.
„Abend·brot?“, fragte sie,
„Ihr denkt an Abend·brot?
Unser Land ist in Gefahr!
Ihr müsst es retten!“
„Nee, echt nicht“, sagten die Prinzessinnen.
„Wir trauen uns nicht.
Tut uns leid.“
Der König und die Königin sahen sich an.
Ratlos.
Das hatte es noch nie gegeben.
Da kam ein Bote gelaufen.
„König, König!“, rief er.
„Der Drache, der Drache!
Er kommt näher!
Er speit Feuer!
Er reißt Häuser ein!
Er wird das Vieh fressen!
Und die Menschen!“
Streng sah der König seine Töchter an.
„Seht ihr“, sagte er,
„ihr müsst!
Es geht nicht anders.
Ich gebe euch jetzt fünf Minuten.
Dann will ich eine Antwort.
Sonst gibt es überhaupt kein Abend·brot
mehr.
Für niemanden.“
Die Prinzessinnen waren wieder allein.
Sie sahen sich an.
Mit großen Augen.
„Ich hab solche Angst“,
flüsterte Prinzessin Mega·stark.
Die beiden anderen nickten.
„Wir schaffen das nicht“, seufzten sie.
„Ich fühl mich mega·schwach“,
sagte Prinzessin Mega·stark.
„Ich fühl mich wie eine Lumpen·puppe“,
sagte Prinzessin Super·schön.
„Ich kann nicht mehr klar denken“, sagte Prinzessin Krass·klug.
„Wer kann uns nur helfen?“
Es klopfte.
Die Tür ging auf.
Prinz Hasen·herz kam herein.
Aber Moment mal.
Was war denn das?
Prinz Hasen·herz war viel
größer geworden!
Prinz Hasen·herz zitterte nicht
mehr!
Die Augen von Prinz Hasen·herz
leuchteten!
Für einen Moment vergaßen die Prinzessinnen ihren Kummer.
„Prinz Hasen·herz!“, riefen
sie.
„Was ist mit dir ge·schehen?
Du siehst so anders aus!“
Prinz Hasen·herz zuckte mit den
Schultern.
„Ich habe keine Ahnung“, sagte er.
Mit fester Stimme.
Tief und laut.
„Ich habe keine Ahnung“, sagte er nochmal.
Und war selbst verblüfft,
wie gut das klang.
Auch wenn er keine Ahnung hatte.
Er sprach einfach weiter:
„Ich habe von dem Drachen gehört.
Da bin ich ge·wachsen.
Und mein Herz, das fühlt sich anders an.
Wie das Herz von einem Löwen.
Hier, fühlt mal!“
Und er streckte seinen Schwestern seine Brust ent·gegen.
Alle drei legten eine Hand auf sein Herz.
Es schlug so stark,
dass man es sehen konnte.
Und es leuchtete.
Ein goldenes Licht
schien durch die Haut.
Der Prinz legte seine Hand auf die seiner Schwestern.
Und in diesem Augen·blick
geschah es:
Prinzessin Mega·stark spürte
ihre Kraft.
Prinzessin Krass·klug wusste
wieder, wie klug sie war.
Prinzessin Super·schön sah
selbst, wie schön sie war.
Und Prinz Hasen·herz sagte:
„Ab jetzt bin ich Prinz Löwen·mut.
Ihr seid die besten Schwestern.
Ihr habt alles, was man braucht,
um Drachen und die Welt zu besiegen.
Wir schaffen das!“
„Wir schaffen das!“, riefen da die Schwestern.
Denn sie spürten:
Mit Prinz Löwen·mut als Bruder
traut man sich alles zu.
Sie ver·loren keine Zeit.
Prinzessin Super·schön schwang
sich auf´s Pferd
und ritt voran.
Prinz Löwen·mut und Prinzessin
Krass·klug stiegen in die Kutsche.
Prinzessin Mega·stark lief zu
Fuß.
Sie zog die Kutsche hinter sich her.
So stark war sie.
Die vier kamen schnell voran.
Sie sahen die Rauch·säule am
Himmel.
Dort müsste der Drache sein.
Denn wo Feuer ist,
da sind auch Drachen.
Üblicher·weise.
Der Drache hatte gute Augen.
Er sah die Königs·kinder.
„Super·schön“, dachte er,
„pah! Die fress ich als Erste!
Danach ein kräftiger Happen.
Die Mega·starke.
Die fress ich als Zweite.
Die Dritte sieht klug aus.
Die fress ich zum Nach·tisch.
Das wird ein Fest·mahl!“
Der Drache sah nicht:
Prinz Löwen·mut.
Denn der saß hinter seiner Schwester.
Und ließ sein goldenes Herz leuchten.
Prinzessin Super·schön
war als erste beim Drachen.
Sie um·wirbelte ihn mit ihrem
langen Haar.
Sie klimperte mit den Wimpern,
dass dem Drachen ganz schwindelig wurde.
Sie war so schön,
dass er seine Augen nicht von ihr lösen konnte.
Da kam auch schon Prinzessin Mega·stark.
Sie schubste den Drachen mit aller Kraft.
Sie kniff den Drachen mega·fest.
Sie haute dem Drachen eins auf die Nase.
Aber sowas von.
Da war dann Schluss mit Feuer·speien.
Nicht ein Funke kam mehr raus.
Der Drache saß ziemlich er·ledigt
auf dem Boden.
Prinzessin Krass·klug stellte
sich vor ihn hin.
„Na, hast du genug?“, fragte sie.
„Ich fress dich gleich“, sagte der Drache.
„Nicht so schnell“, sagte Prinzessin Krass·klug.
„Ich hab da noch ne Frage.
Wenn Du die Antwort weißt,
gewinnst Du das ganze König·reich.“
„Und wenn nicht?“, fragte der Drache miss·trauisch.
„Dann“, sagte Prinzessin Krass·klug,
„gehörst du uns.“
„Na gut“, sagte der Drache, „dann frag mich was.“
Der Drache war sich seiner Sache sicher.
Und es stimmt ja auch:
Die Drachen sind sehr, sehr schlau.
„Also“, sagte die Prinzessin,
„hier kommt die Frage:
Wenn man schön ist
und stark
und schlau.
Was braucht man noch,
um einen Drachen zu be·siegen?“
Der Drache dachte nach.
Er kratze sich mit der Pfote hinterm Ohr.
„Schlau, stark und schön reicht nicht?“, fragte er die
Prinzessinnen.
„Nee“, riefen alle drei, „was fehlt uns noch?“
Der Drache grübelte und grübelte.
„Ich habe keine Ahnung!“, rief er schließ·lich.
„Schön, stark und schlau, das muss doch reichen!
Sagt mir die Ant·wort, und ich
gehöre euch.“
„Man braucht noch Löwen·mut!“,
jubelten die Schwestern.
Und in dem Moment war Prinz Löwen·mut
schon auf den Drachen ge·klettert
und legte ihm ein goldenes Hals·band
an.
„Wo hast Du das denn her?“, fragten die Schwestern.
„Lag in der Küchen·schub·lade“, sagte Prinz Löwen·mut,
„wahr·scheinlich noch von der
letzten Drachen·plage.“
Der Drache begann zu weinen.
„Ich bin so dumm!“, jammerte er.
„Ich bin so doof!
Das weiß doch jedes Drachen·baby!
Mut braucht man!
Mut!
Ohne Mut geht gar nichts!
Das hat mir meine Mama immer gesagt.
Ich bin so blöd!
Ich hab´s vergessen!
Ich habe mein Leben ver·spielt!
Sie werden mich töten!“
Die Prinzessinnen hörten auf zu jubeln.
Sie hatten weiche Herzen.
Und Augen, die das Gute sehen.
Auch wenn es in einem Drachen ver·steckt
ist.
Prinzessin Krass·klug fragte
den Drachen:
„Hast Du denn schon was wirklich Schlimmes getan?
Also Leute ge·fressen oder so?“
„Nee“, sagte der Drache, „da bin ich noch gar nicht zu ge·kommen.
Ich habe nur ein paar Häuser kaputt gemacht.
Und diesen kleinen Wald hier an·gezündet.
Und Angst und Schrecken verbreitet“
„Naja, schön ist das nicht“, sagte Prinzessin Super·schön.
Aber Prinzessin Mega·stark war
schon dabei
die Sache in Ordnung zu bringen.
Sie stapelte Mauer·steine auf·einander
und ver·setzte ein paar Bäume
von da nach dort.
Es sah alles ein bisschen schief und krumm aus.
Aber es ging schon.
Dann holte sie aus ihrer Tasche ein Käse·brot
und hielt es dem Drachen hin.
Der spitzte die Lippen
und nahm es ganz vor·sichtig.
„Mmmmmh…“, sagte er, „das ist aber gut!“
„Ja“, sagte die Prinzessin, „Käse·brot
kannst Du gern fressen.
Aber keine Leute!
Verstanden?“
Die Prinzessinnen sahen dem Drachen ernst in die Augen.
„Das darf nicht wieder vorkommen, hörst du?
Nie wieder ein Haus kaputt machen!
Nie wieder einen Wald anzünden!
Und keine Angst und keinen Schrecken mehr ver·breiten!“
„Ja“, sagte der Drache klein·laut.
„Es ist ja auch ein ziemlich ein·sames
Leben so.“
„Eben“, sagten die Prinzessinnen.
„Pass auf.
Wir machen einen Deal.
Du kommst mit.
Du kannst Schloss·drache
werden.“
„Ich weiß nicht“, sagte der Drache
„Ich habe ein bisschen Angst.
Die Leute werden nicht nett mit mir sein.
Vielleicht sagen sie böse Sachen?
Oder werfen Dinge nach mir?“
„Papper·la·papp“, sagten die Schwestern
„Wir passen schon auf dich auf.
Alles was Dir fehlt, ist ein bisschen Mut.“
„Löwen·mut!“, flüsterte ihm der
Prinz ins Drachen·ohr.
Und da wurde dem Drachen ganz warm um´s Drachen·herz.
Das wäre doch eigentlich ganz schön.
Raus aus der kalten Drachen·höhle.
Weg von dem miesen Drachen·image.
Zur Königs·familie gehören.
Ein neues Leben an·fangen.
Er spürte etwas in sich auf·steigen.
Ein Gefühl, das seine Sorgen ver·wandelte.
Ein kleines bisschen Löwen·mut.
Das reichte schon.
Und so zogen sie zu fünft zum Schloss zurück.
Prinzessin Mega·stark.
Prinzessin Krass·klug.
Prinzessin Super·schön.
Prinz Löwen·herz.
Und...
Ja wer eigentlich?
„Wie heiß ich denn jetzt?“, fragte der Drache.
„Du bist der Drache Hasen·herz!“,
sagte Prinz Löwen·mut.
„Mein alter Name ist frei ge·worden.
Ich schenk ihn dir.“
Und nie hat man einen stolzeren Drachen gesehen
als den Drachen Hasen·herz
mit seiner neuen Familie.
Und so lebte er glücklich
mit Käse·brot und voller Liebe
im Schloss.
Und jeden Abend wurde er ein·ge·sprüht.
Mit Mücken·spray.
Damit ihm nie wieder
eine Mücke Leid zu·fügt.
Die drei Schwestern aber und der Prinz
die lebten höchst ver·gnügt
ihr Königs·leben.
Stark, schlau, schön und mutig waren sie.
Und voller Liebe.
Bis ans Ende ihrer Tage.