Die Sache mit Herrn Stein
von Andrea Lauer
Ulrike schläft jetzt immer bei Licht.
Sie muss ihre Wohnung sehen, wenn sie wach wird.
Sie muss die Wand mit den vielen Fotos sehen.
Fotos von ihren Freunden und von ihrer Mutter.
Dann weiß sie, sie hatte nur schlecht geträumt.
Dann weiß sie, sie ist zu Hause.
Zu Hause muss sie keine Angst haben.
Früher ist Ulrike gern aufgestanden.
Seit einem halben Jahr ist das anders.
Der Wecker klingelt laut und schrill.
Sie muss raus in die Kälte.
Sie muss sich anziehen.
Sie muss sich waschen.
Sie muss zur Arbeit gehen.
Und auf der Arbeit ist dann Herr Stein.
Früher ist Ulrike gern in die Werkstatt gegangen.
Sie hat sich auf Jana gefreut.
Auf die Arbeit hat sie sich auch gefreut.
Und am meisten hat sie sich auf die Scherze gefreut.
Ulrike hat Pups-Kissen gekauft.
Damit hat sie die Gruppen-Leitung genervt.
Sie hat Spinnen ins Büro geschmuggelt.
Die Sekretärin ist voll erschrocken.
Ulrike hat ihren halben Lohn für Scherzartikel ausgegeben.
Kack-Haufen, schimmeliges Brot, Käfer – einfach alles.
Wenn sich die Kollegen gelangweilt haben,
hat Ulrike Grimmassen geschnitten.
Damit hat sie alle zum Lachen gebracht.
Ja! Früher ist sie wirklich gern zur Arbeit gegangen.
Doch seit einem halben Jahr will sie nur zu Hause sein.
Sie will im Bett liegen.
Sie will Pudding oder Hühnersuppe essen.
So wie ihre Mutter sie früher gekocht hat.
Sie will ihre kuschel-weiche Wärmflasche im Arm halten.
Die, die sie von ihrer Freundin Jana bekommen hat.
Sie will Musik im Ohr. Sarah Connor zum Beispiel.
Das wäre gut.
Dann würde sie wieder heile werden.
Das hat sie natürlich versucht.
Sie weiß ja, was gut für sie ist.
Sie ist einfach zu Hause geblieben.
Sie hat Pudding gegessen.
Manchmal hat sie sich Suppe gekocht.
Sie hat sich mit der Wärmflasche im Bett verkrochen.
Und sie hat viel geweint.
Doch bald gab es Ärger. Sie hat zu oft gefehlt.
Wenn sie noch einmal fehlt, muss sie in eine WG ziehen.
Das meinen die Sozialarbeiter nur gut.
Jedenfalls sagen sie das.
Sie wollen ein Auge auf Ulrike haben.
Sie soll zur Arbeit gehen.
Sie soll ihr Leben im Griff haben.
Eine WG kann dabei helfen, finden sie.
Doch Ulrike braucht ihre Wohnung.
Hier hat sie schon als Kind gelebt.
Auch wenn die Mutter lange tot ist:
Alles in dieser Wohnung riecht nach Sicherheit.
Sie muss diese Wohnung behalten.
Also geht sie weiter zur Arbeit.
Koste es, was es wolle.
Auch, wenn sie schreckliche Angst vor Herrn Stein hat.
Sie macht keine Scherze mehr.
Sie ist die meiste Zeit ruhig.
Sie wartet, dass es vorbei ist.
Sie wartet, dass sie nach Hause gehen kann.
Die Sozialarbeiterinnen loben sie jetzt oft.
„Du bist aber erwachsen geworden“, sagen sie.
Oder: „Wie schön ruhig du geworden bist.“
Sie sind wohl weniger klug als Jana.
„Was ist los mit dir?“, fragt Jana.
Sie fragt mit den Augen.
Ihr Mund bleibt wie immer zu.
Ulrike zuckt trotzdem zusammen.
Hat Jana etwas bemerkt?
Jana guckt so ernst.
Sie guckt mitten rein in Ulrikes wundes Herz.
Beinahe hätte Ulrike etwas erzählt.
Beinahe hätte sie gesagt, dass Herr Stein böse ist.
Beinahe hätte sie gesagt, was er ihr antut.
Aber Herr Stein hat gesagt:
„Wenn du jemandem etwas von uns erzählst,
dann passiert etwas viel, viel Schlimmeres!“
Was soll noch schlimmer sein?
Es muss wirklich furchtbar sein.
Ihr wird schlecht vor Angst, wenn sie daran denkt.
„Dir wird niemand glauben“, sagt Herr Stein.
„Alle werden dich für eine Lügnerin halten.“
Sicher hat er recht.
Er muss es wissen.
Schließlich ist er Gruppen-Leiter.
Dabei kann sie eh nicht darüber reden.
So peinlich ist ihr das.
Schon bei der Vorstellung ist ihr Mund wie zugeklebt.
„Was ist los?“, fragt Jana wieder einmal.
Jana fragt stumm.
Sie spricht nie.
Aber Ulrike versteht sie.
Zwischen ihnen braucht es keine Worte.
„Was soll schon sein?“, sagt Ulrike.
Jana zieht die Augenbrauen zusammen.
Sie glaubt ihr nicht.
Ulrike sieht es ihr an.
Ulrike zuckt mit den Schultern.
„Lass mich in Ruhe“, sagt sie.
Ständig dieser besorgte Blick.
Ständig diese Fragen in Janas Augen.
Ulrike hasst das.
Was soll sie denn antworten?
Sie muss doch den Mund halten.
Ulrike geht Jana lieber aus dem Weg.
Dabei ist sie sonst keinem Problem aus dem Weg gegangen.
Sie hat sonst immer die große Klappe.
Tage später trifft sie Jana auf dem Heimweg.
Jana stellt sich vor sie.
Sie wedelt mit den Armen. Sie schüttelt den Kopf.
„Du hörst auf mit der Fragerei?“, fragt Ulrike.
Jana nickt.
„Echt?“
Ulrike ist so erleichtert.
„Danke“, sagt sie.
Jana nimmt Ulrike fest in den Arm.
Wie gut das tut.
Am nächsten Tag ist Dienstag.
Sie hasst Dienstage.
Dienstage sind immer schrecklich.
Herr Stein geht in sein Büro.
Wie immer nach der Mittagspause.
„Komm mit!“, sagt er.
Sie geht hinter ihm.
Sie zittert vor Angst.
„Du langweilst mich“, sagt er.
„Ich habe eine andere.
Eine, die besser aussieht als du.
Eine, die überhaupt besser ist als du.“
Das ist wie ein Stich ins Herz.
Sie sollte sich freuen.
Darauf hat sie doch so gehofft.
Aber sie fühlt sich wie weg-geworfen.
Sie hat doch immer gemacht, was er wollte!
Sie schämt sich mehr als je zuvor.
In der Pause sucht sie Jana.
Jana soll neben ihr sitzen.
Ulrike braucht jetzt dringend ihre Nähe.
Sie sucht Jana in der Raucher-Ecke.
Sie sucht beim Kaffee-Automaten.
Sie sucht an ihrer gemeinsamen Bank
Sonst findet sie Jana immer.
Wo ist sie nur?
Die Pause ist längst vorbei.
Von Jana keine Spur.
Ulrike hört auf nach ihr zu suchen.
Sie geht zum Arbeitsplatz zurück.
Sie ist spät dran.
Das gibt sicher Stress.
Sie hasst es, von Herrn Stein ermahnt zu werden.
Doch sie hat Glück.
Herr Stein ist noch unterwegs.
Sie nimmt sich eine neue Kiste aus dem Regal.
Schnell schraubt sie ein Scharnier zusammen.
Dann ein zweites und ein drittes.
Da sieht sie Herrn Stein kommen.
Er geht an ihr vorbei zu seinem Tisch.
Sie sieht, wie er grinst.
Das kennt sie nur zu gut.
Heute hat das nichts mit ihr zu tun.
Vorsichtig freut sie sich ein bisschen.
Heute hat er sie in Ruhe gelassen.
Vielleicht wird er sie auch morgen in Ruhe lassen.
Sie sieht von ihrer Arbeit hoch.
Die fertigen Scharniere müssen in die blaue Kiste.
Da sieht sie Jana vorbei-gehen.
Jana?
Wo kommt Jana denn jetzt her?
Warum sieht sie auf den Boden?
Sie sieht doch sonst immer zu ihr rüber.
Ulrike lässt die Scharniere in die Kiste fallen.
Metall auf Metall.
Alle hier sind diesen Lärm gewohnt.
Keinen interessiert es.
Nur Jana zuckt zusammen.
Ulrike sieht das.
Dann sieht sie Jana in ihrer Gruppe verschwinden.
Ulrike sieht zu Herrn Stein.
Sie sieht in die Richtung, in die Jana verschwunden ist.
Sie sieht wieder zu Herrn Stein.
In ihrem Bauch fängt es an zu grummeln.
Ihr wird kalt. Ihr wird heiß.
Was, wenn Herr Stein auch andere Frauen anfasst?
Was, wenn er sie auch zwingt, Dinge zu tun, die sie nicht wollen?
Was, wenn Jana die neue ist, von der er geredet hat?
Ihre Freundin Jana.
Wie eine Bombe knallt der Gedanke in ihren Kopf.
Er saust schmerzhaft durch ihr Inneres.
Alles, was sie je gedacht hat, wirbelt durcheinander.
Sie springt auf.
Ihr Stuhl kracht nach hinten.
Sie rennt los. Ganz zittrig vor Wut.
Sie rennt zu Jana.
„Komm mit!“, ruft sie.
Sie greift Janas Hand.
Sie zieht Jana hinter sich her.
Alle starren sie an.
Selbst die Gruppen-Leiterin ist verwirrt.
„Ulrike?“ ruft sie. „Jana?“
Etwas lauter ruft sie:
„Wo geht ihr hin?“
Doch die beiden sind längst auf dem Hof.
Sie gehen in ihre geheime Ecke.
„Fasst er Dich auch so komisch an?“, fragt Ulrike.
Jana schüttelt heftig den Kopf.
Ulrike weiß, dass sie lügt.
„Das muss ein Ende haben“, sagt sie laut.
Nach einer kurzen Pause sagt sie:
„Mit mir hat er das auch gemacht.“
Endlich hat sie es gesagt.
Sie wartet kurz.
Doch nichts passiert.
Kein Blitz, der sie trifft.
Und sie fällt auch nicht tot um.
Nur Jana zittert furchtbar.
Ulrike hält sie im Arm.
„Hab keine Angst“, sagt sie.
Dabei kennt sie diese Angst genau.
Diese schreckliche Angst, die für sie beide reicht.
Angst, für alle Frauen dieser Welt.
Sie macht da nicht mehr mit!
Sie wird jetzt keine Angst mehr haben.
Mit Jana zusammen schafft sie es.
Sie wird etwas tun!
Jetzt sofort.
„Komm mit mir“, sagt sie leise zu Jana.
„Wir machen dem ein Ende.“
Sie gehen zurück in die Werkstatt.
Sie gehen an ihren Arbeitsplätzen vorbei.
Sie gehen zum Büro der Sozialarbeiterin.
Ulrike klopft an die Tür.
Einen Spalt geht die Tür auf.
„Ja?“, fragt es von innen.
„Ich muss mit dir reden“, sagt Ulrike.
„Später“, sagt es von innen.
„Nein jetzt!“, sagt Ulrike.
„Ich bin im Gespräch. Es kann dauern.“
Zack!
Die Tür ist wieder zu.
Das gibt’s doch nicht!
Was soll das denn?
Sie sieht Jana an.
„Was jetzt?“, fragt sie.
Da hört sie hinter sich Schritte.
Sie merkt wie Jana sich an sie klammert.
Jana ist blass geworden.
Als käme da ein Gespenst auf sie zu.
Ulrike dreht sich um.
Was sie sieht, ist schlimmer als ein Gespenst.
Kurz bleibt ihr Herz stehen.
Herr Stein! Er kommt nah an ihr Ohr.
Sie kann seinen Atem fühlen, als er fragt:
„Was macht Ihr denn hier?“
Er grinst.
„Hör auf damit!“, sagt Ulrike.
„Lass mich in Ruhe.
Lass Jana in Ruhe.
Lass überhaupt alle in Ruhe.
Sonst …“
„Was sonst“, sagt Herr Stein.
„Was willst du machen?“
Er nickt einmal kurz.
Seine Augen sind schmal.
Seine Lippen aufeinander-gepresst.
Ulrikes Herz klopft wild.
Sie fühlt, wie Jana ihr fest die Hand drückt.
Wie gut, dass Jana bei ihr ist.
Dann sagt Ulrike:
„Ich sage allen was du getan hast!
Du tust keiner Frau mehr weh.“
Herr Stein lacht, als hätte sie einen besonders lustigen
Witz gemacht.
Er lacht ihr mitten ins Gesicht.
Ein Lachen wie Schläge auf der Haut.
Er lacht Tränen.
Da geht die Bürotür auf.
Die Sozialarbeiterin lächelt sie an.
„So Ulrike“, sagt sie.
„Jetzt kannst du reinkommen.“