Das neue Jahr
von Andrea Lauer
Im Januar fliegt die
Katze an mir vorbei.
Es ist Winter. Es ist kalt. Saukalt.
Die Katze fliegt auf den Schneemann zu.
Zack! Sie trifft mit sich selbst.
Der Schneemann fällt um.
„Pass doch auf!“, schreit er.
Die Katze landet auf ihren Pfoten.
Gemütlich geht sie weiter.
Ich kann sie lachen hören.
Im Februar sehe ich
den Schneemann wieder.
Es ist Winter. Es ist kalt. Es regnet.
Der Schneemann hat ein rotes Kleid an.
Er hat einen Regen-Schirm in der Hand.
Er dreht den Schirm.
Er dreht sich.
Sein rotes Kleid dreht sich mit.
Gut sieht er aus.
Er singt ein Frühlings-Lied. Laut und falsch.
Ich singe mit.
Im März sehe ich das
rote Kleid im Schaufenster.
Es ist nass. Es tropft.
Unter dem Kleid ist eine Pfütze.
Daneben liegen Kohle-Stücke und eine Möhre.
Klar! Der Frühling steht vor der Tür.
Es ist zu warm für einen Schneemann.
Ich kaufe das Kleid. Ich ziehe es an.
Ich gehe nach Hause.
Ich setze ich mich in meinen Lieblings-Sessel.
Das Kleid tropft und tropft weiter.
Unter meinem Sessel entsteht ein Teich.
Im April ziehen die
Enten bei mir ein.
Das Wetter draußen ist ihnen zu wechselhaft.
Das ist kein April-Scherz.
Sie meinen es ernst.
Sie kommen mit Koffern.
Sie schieben die Zimmer-Pflanzen um den Teich.
Die Enten-Dame legt Eier auf meinem Sessel.
Sie setzt sich drauf.
Sie trinkt Tee und strickt Socken.
Im Mai liest mein
Sessel ein Buch.
Er liest Frühlings-Gedichte.
Plötzlich lacht er los. Er schüttelt sich.
Die Enten-Eier kullern von seinem Sitz.
Die Enten-Dame ist sauer. Der Enten-Herr natürlich auch.
Der Sessel haut lieber ab.
Ich höre wie er die Treppe runter-poltert.
Ich renne ihm nach.
Draußen scheint die Sonne.
Die Bäume tragen frisches Grün.
Der Sessel ist weg.
Im Juni suche ich den
Sinn des Lebens.
Ich hoffe er gefällt mir.
Ich ziehe das rote Kleid an.
Der Sinn des Lebens soll mich ja schließlich bemerken.
Sonst geht er noch an mir vorbei.
Das Kleid ist schon lange trocken.
Es ist ein heißer Sommer-Tag.
Ich suche und suche.
Ich finde die Liebe.
Der Sinn des Lebens hätte schöner nicht sein können.
Im Juli sterbe ich.
Draußen ist es heiß. Die Sonne knallt.
Ich brauche ein kaltes Getränk.
Zu dem Thema habe ich ein Buch:
„Kalte Getränke aus aller Welt“
Es klettert aus dem Regal.
Es schlägt mir heiße Suppen vor.
2 Stunden redet es auf mich ein.
Schweiß rinnt über meine Stirn.
Gleich quatscht es mich tot.
Mein Herz rast. Schneller und schneller.
Dann bleibt es stehen. Einfach so.
Ich bin sofort tot.
Im August sitze ich
auf einer Wolke.
Ein Engel kommt vorbei.
Riesige Flügel. Rosa Glitzer. Goldenes Kleid.
Es ist Sommer, sagt er, überall blühen Blumen.
Was willst du hier, fragt er.
Ich zucke mit den Schultern.
Gestorben wird später, sagt der Engel.
Er schubst mich von der Wolke.
Ich lande in meinem Teich.
Die Enten machen mir einen Drink.
Im September geht die
Liebe.
Sie küsst mich ein letztes Mal auf die Stirn.
Unschlüssig steht sie auf der Straße.
Dann hakt sie sich bei einer älteren Dame ein.
Ich weine und weine und weine.
Aus meinem Teich wird ein See.
Der ist den Enten zu salzig.
Sie packen die Koffer.
Sie fliehen durchs Fenster.
Es ist noch warm draußen.
Doch ich kann den Herbst schon riechen.
Im Oktober helfe ich
bei der Ernte.
Die Felder sind voller Brot.
Es dampft.
Heiß und schwer liegt es in meinen Händen.
Ich ernte Apfelringe in Zartbitter-Schokolade.
Die Schokolade schmilzt in der Herbst-Sonne.
Ich muss mich beeilen.
Tagelang regnet es Fruchtsaft und Weinschorle.
Zuckerwatte-Wolken fliegen wie wild.
Ich sitze am See in meiner Wohnung.
Die Beine im Wasser.
Ein Eis in der Hand.
Im November geht das
Kleid weg.
Es bedankt sich bei mir für schöne Zeit.
Das Wasser nimmt es mit.
Bald wird ein neuer Schneemann daraus.
Das Salz lässt es da.
Also mache ich Salzteig.
Ich bastele Vögel.
Grüne und blaue und gelbe und rote und gemischte.
Sie fliegen alle in den Süden.
Richtig so!
Der Winter steht vor der Tür.
Im
Dezember klingelt mein Sessel an der Tür.
Ein Mann steht neben ihm.
Den kenne ich doch.
Zu Silvester haben wir uns auf der Straße getroffen.
Vor einem Jahr hat er mich gefragt:
Bist Du zufrieden mit dem alten Jahr?
Es war ein wenig zu langweilig, habe ich gesagt.
Und was soll das neue Jahr bringen?
Unfug und Firlefanz und Kokolores und Pipifax.
Der Mann hat gelacht.
Echt, hat er gefragt.
Ja, sage ich.
Mehr Blödsinn braucht die Welt!
Andrea Lauer ist Autorin für Einfache Sprache. So können viele Menschen ihre Texte verstehen. Hierfür hat sie Preise und ein Stipendium bekommen. Sie ist 1972 in Thüringen geboren. Sie hat 2 Söhne und lebt mit ihrer Frau in Berlin. www.andrea-lauer.de