Das Jahreszeiten-Känguru
von Nelly Neukirchen
Anna lebt allein.
In einer kleinen Wohnung,
in einem großen Miets-Haus.
Hinter dem Haus liegt der Bürger-Park.
Darin geht Anna gerne spazieren.
Sie mag die Ruhe dort. Die Blumen. Die Bäume.
Und die Vögel in den Bäumen.
Am liebsten mag sie
das Känguru.
Es steht mitten im Park. Versteckt hinter Büschen.
Das Känguru ist ein Geschenk aus Australien.
Es ist so groß wie Anna. Es ist aus Bronze.
Aber es sieht fast lebendig aus.
Anna hat der Känguru-Statue einen Namen gegeben.
Für Anna heißt das Känguru Bobbie.
Anna geht Bobbie oft besuchen.
Sie erzählt Bobbie Geschichten.
Anna fühlt sich oft einsam.
Aber bei Bobbie nicht.
Bobbie geht nie weg.
Bobbie steht immer an der gleichen Stelle.
Anna möchte, dass Bobbie auch etwas vom Leben hört.
Sie erzählt dem
Känguru, wenn es ihr gut geht.
Und wenn es ihr nicht so gut geht.
Sie weiß, dass das komisch ist.
Aber für Anna ist Bobbie eine Freundin.
Eine Freundin, weil Bobbie ein weibliches Känguru ist.
Denn Bobbie hat einen Beutel am Bauch.
Den haben nur Känguru-Weibchen.
Man kann sogar etwas in Bobbies Beutel stecken.
Das merkt Anna am Valentins-Tag.
Valentins-Tag ist am
14. Februar.
Im Februar ist alles kahl und grau.
Auch Bobbie sieht kahl und grau aus.
Aber dann sieht Anna etwas Rotes.
In Bobbies Beutel steckt eine rote Rose!
Die Rose ist wunderschön.
Wie ein Farb-Klecks in einem Schwarz-Weiß-Film.
Die Rose ist ein
kleines Rätsel.
Und da hat Anna eine Idee.
In ihrer Manteltasche hat sie noch ein Stück Kreide.
Manchmal lutscht sie gerne Kreide.
Auch wenn sie weiß, dass sie das nicht tun soll.
Anna holt die Kreide aus der Tasche.
Und sie malt Bobbie ein Herz auf den Bauch.
Bobbie sieht damit sehr hübsch aus.
An diesem Abend fühlt
Anna sich gar nicht allein.
Sie teilt ein Geheimnis mit jemandem.
So fühlt sich das an.
Am nächsten Tag geht sie wieder Bobbie besuchen.
Es ist ein bitter-kalter Tag.
Da hat Bobbie eine bunte Woll-Mütze auf dem Kopf.
Anna muss lachen.
Dann zieht sie ihren Schal aus.
Und legt ihn Bobbie um den Hals.
Am nächsten Tag hat
jemand Bobbie eine blaue Hose gemalt.
In Bobbies Beutel stecken zwei Spray-Dosen.
Also sprüht Anna Bobbie einen gelben Pullover dazu.
Gut, dass es schon fast dunkel ist.
So sieht niemand, was sie da macht.
Annas Herz klopft laut vor Aufregung.
So geht das immer
weiter.
Bobbie bekommt Hosen-Träger.
Und Socken.
Dann Punkte auf die Hose.
Dann Streifen auf den Pullover.
Immer neue Schichten aus Farbe bekommt Bobbie.
An Karneval hat Bobbie
eine Clowns-Nase.
Und Luft-Schlangen um den Hals.
Langsam wird es Frühling.
Anna weiß immer noch nicht,
wer die Sache mit der Farbe angefangen hat.
Aber es macht ihr großen Spaß.
An Ostern hängt sie
Bobbie bunte Oster-Eier an die Ohren.
Und sie legt einen Schoko-Oster-Hasen in Bobbies Beutel.
Jemand hat künstliches Gras um Bobbies Füße gestreut.
Und Stoff-Blumen an ihren Schwanz geklebt.
Bobbie sieht aus wie ein Frühlings-Geschenk.
Anna steht vor Bobbie und freut sich.
Im Sommer bekommt
Bobbie eine Sonnen-Brille.
Und einen Schwimm-Reif.
Und gemalte Bade-Hosen.
Und Sand um die Füße.
Und eine Plastik-Palme neben sich.
Immer neue Schichten
aus Farbe kommen dazu.
Bobbie wird immer dicker und größer.
Weil die Farb-Schicht immer dicker wird.
Im Herbst bekommt Bobbie eine Leder-Hose.
Als würde sie zum Oktober-Fest gehen.
Sogar ein Lebkuchen-Herz hängt um Bobbies Hals.
Anna trifft nie
jemanden bei Bobbie.
Aber sie ist nicht allein.
Sie ist jetzt Teil einer Gruppe.
Die „Wir machen Bobbie schön“-Gruppe.
Manchmal überlegt sie, sich auf die Lauer zu legen.
Um andere Bobbie-Schmücker zu sehen.
Aber dann lässt sie es.
So wie es ist, ist es
gut.
Im Dezember will sie Bobbie als Weihnachts-Mann verkleiden.
Und eine Lichter-Kette um sie hängen.
Mal sehen, was den anderen dazu einfällt.
Vielleicht bekommt Bobbie auch einen Weihnachts-Baum.
Anna ist schon gespannt.
Aber als sie nach ein
paar Tagen wieder in den Park geht,
ist alle Farbe von Bobbie verschwunden.
Still und stumm und grau steht Bobbie da.
Um Bobbie ist ein rot-weißes Flatter-Band gespannt.
Davor ist ein Schild, auf dem steht:
„Betreten und Sprühen bei Strafe verboten.
Das Ordnungs-Amt.“
Anna hat Tränen in den
Augen.
Es fühlt sich an,
als ob Bobbie in einem Gefängnis wäre.
Langsam geht Anna nach Hause.
Und fühlt sich ganz leer.
Da ruft Annas Vater an.
„Anna!“, ruft er ins
Telefon.
„Eben hab ich in der Zeitung über Deinen Park gelesen.
Da steht wohl ein Känguru.
Und das Känguru sieht immer anders aus.
Weil viele Leute es schmücken.
Das Känguru ist sogar auf Instagram!
Aber jetzt ist das Känguru-Schmücken verboten.
Und viele Leute sind richtig sauer
deswegen.“
Anna springt auf.
Sie sucht auf Instagram nach Bobbie.
Und tatsächlich, da ist sie:
Unter „Das Jahres-Zeiten-Känguru“
sind hunderte von Fotos von Bobbie.
Wie sie immer anders aussieht.
Auch ihr erstes Herz auf Bobbies Bauch sieht Anna.
Und viele Kommentare.
Anna wusste gar nicht,
dass Bobbie so berühmt ist.
Ganz oben ist ein Foto von der wieder grauen Bobbie.
Mit dem Flatterband und dem Schild.
Und darunter steht:
„Wir wehren uns!
Wir wollen unser Jahres-Zeiten-Känguru behalten!
Sonntag, 11.00 Uhr, Känguru-Demo!“
Das ist morgen!
Anna ist sehr aufgeregt.
Da geht sie hin!
Sie wird für Bobbie demonstrieren.
Und für sich.
Und für den Spaß.
Und für die Schönheit.
Am Sonntag ist ein
sonniger Herbst-Tag.
Anna läuft durch den Park zu Bobbie.
Und da ist eine riesige Menschen-Menge.
Alte Leute, junge Leute.
Leute mit Kindern.
Viele sind verkleidet.
Leute mit Kameras sind auch da.
Fast kann Anna Bobbie gar nicht sehen.
Es wird Musik gemacht.
Und getanzt.
Die Leute rufen:
„Känguru in bunt macht Spaß!
Ordnungsamt, los, merk Dir das!“
Alles ist bunt und laut.
Wie ein großes Fest.
Irgendwann kommt die
Polizei.
Sie sagt, die Leute sollen nach Hause gehen.
Alle sagen:
„Wir gehen. Aber wir kommen wieder.
Ab jetzt jeden Sonntag.
Bis wir Bobbie wieder bunt machen dürfen!“
Und so ist es.
Anna geht auch am nächsten Sonntag zu Bobbie.
Und am übernächsten.
Und immer sind da viele Leute.
Immer wieder wird Bobbie geschmückt.
Und von der Stadt wieder abgeschmückt.
Die Bürger-Meisterin kommt zum Gespräch.
Journalisten kommen.
Sie stellen Fragen.
Und machen noch mehr Fotos.
Es gibt mehr Bilder
auf Instagram.
Und eine Facebook-Seite:
„Rettet das Jahres-Zeiten-Känguru!“
Und eine Unterschriften-Liste.
Und weitere Artikel in der Zeitung.
Ihr Vater sammelt die Artikel.
Denn er hat Anna auf einem Foto gesehen,
das in der Zeitung war.
Anna bringt sonntags
jetzt Kuchen mit zu Bobbie.
Die anderen kennen sie schon.
Und freuen sich, wenn Anna kommt.
In einem Zeitungs-Artikel steht,
dass alles mit einem Kreide-Herz angefangen hat.
Am Valentins-Tag.
Auf Bobbies Bauch.
Anna erzählt den
anderen, dass sie das war.
Eine Frau sagt:
„Ich hab die Rose in den Beutel gesteckt.“
Und sie lächelt Anna an.
„Und ich war das mit der Clowns-Nase!“,
ruft ein junger Kerl mit Kapuze.
Er knufft Anna in den Arm.
Sie fühlt sich wie in einer großen Familie.
Wochen vergehen.
Dann kommt Annas Vater ganz aufgeregt vorbei.
Er hält die Zeitung hoch.
Darin sieht Anna ein Foto.
Von Bobbie mit dem Herz auf dem Bauch.
Die Überschrift lautet:
„Jahres-Zeiten-Känguru gerettet!“
Und darunter:
„Die Statue im Bürger-Park darf wieder bunt sein.“
Anna fällt ihrem Vater
um den Hals.
Sie läuft gleich zu Bobbie.
Dort sind schon die anderen.
Alle freuen sich riesig.
Und tanzen um Bobbie herum.
Es wird eine lustige, laute Party.
Bis es dunkel wird.
Und noch länger.
Die
Frau mit der Rose ist auch da.
Sie steckt Bobbie wieder eine Rose in den Beutel.
„Die ist für Dich“, flüstert sie Anna zu.
Anna findet,
dass Bobbie nie schöner ausgesehen hat.
Nun bist du dran.
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