Blacky
von Jochen Heckmann
Hallo, ich bin Blacky.
Mein Gefieder ist weiß. Von oben bis unten total weiß.
Außer meine Augen, die sind rot. Mein Schnabel und die Zehen leuchten Gelb.
Ich bin ein Albino. Das sagt Twiggy. Und sie muss es wissen.
Bis vor kurzem ist mein Name Hansi gewesen.
Maria hat mich so gerufen.
Aber das ist schon eine Weile her.
Gerne erzähle ich
euch, was passiert ist:
Es beginnt damit, dass Twiggy am Boden liegt.
Lange am Boden liegt.
Keinen Muckser gibt sie mehr von sich.
Kein Piepen.
Kein Tschilpen.
Kein Kratzen mit den Krallen.
Kein Picken mit dem gelben Schnabel.
Der eine Flügel ist weit ausgebreitet, bedeckt ihren Körper.
Ihr Kopf liegt darunter versteckt.
Das Tuch vor unseren Stäben verschwindet.
Es hängt jede Nacht über unserem Käfig.
Twiggy liegt immer noch da.
Dann höre ich einen lauten Seufzer.
Das Törchen wird geöffnet.
Eine Hand taucht herein. Sie gehört zu Maria.
Marias Hände sind mit
vielen kleinen braunen Flecken und Falten übersät.
Ihre Hände erscheinen jeden Tag.
Morgens wird das Wasser ausgetauscht.
Mittags gibt es zwei Salatblätter oder anderes Gemüse.
Nachmittags wird das Törchen geöffnet.
Dann fliegen wir ein paar Runden durch den Raum.
Dabei schlagen unsere Herzen höher. Die Flügel flattern.
Abends gibt es frische, bunte Körner im Schälchen.
Manchmal stecken ein paar Trauben oder Stückchen von Melone oder Apfel zwischen
den Stangen.
Jede Woche zieht Maria den Boden heraus. Sie tauscht den weißgelben Sand aus.
Darunter liegt ein schwarzweiß bedrucktes Papier.
Wenn es draußen dunkel wird, wirft Maria das Tuch über den Käfig.
Maria berührt Twiggy.
Spricht ihren Namen aus. Sie bewegt sich nicht.
Maria nimmt Twiggy heraus.
Meine grüngelbe Freundin wird in ein kariertes Stück Stoff gewickelt.
Danach sehe ich Twiggy nicht mehr wieder.
Maria wirft das Tuch
in den nächsten fünf Tagen fünf Mal über den Käfig und entfernt es.
Dann beginnt die neue Zeit. Die Erdzeit.
Twiggy hat sie Frühling genannt.
Auf dem Tisch in der Mitte des Raums steht dann immer eine Glasvase mit Blumen.
Die Blütenkelche haben die Form von großen Eiern. Es gibt sie in allen Farben:
rot, gelb, violett, orange und rosa.
Draußen vor dem Fenster steht ein Baum. Wir können den kleinen, grünen Blätter
beim Wachsen zu sehen.
Wenn das Fenster offen steht, können wir sie wachsen hören. Dann machte es:
„Rutschel – Ritsch – Knirsch – Wisch“.
Und wenn man genau hin hört, kann man ein „Schwurbel – Schwapp – Schrabb –
Schrabb“ erkennen. Das sind die Triebe für neue Zweige, die aus den Ästen
sprießen.
Neben unserem Käfig
hängt ein Bild mit vielen Zeichen darauf.
Das eine Bild wird von Maria abgerissen. Ein neues Bild erscheint.
Nach jedem dritten Mal Abreißen wechselt die Zeit.
Die nächste Zeit heißt Sommer. Die Sonnenzeit.
Dann steht auf dem Tisch eine hohe Vase aus rötlichem Ton.
Darin erstrahlen Sonnenblumen. Das Innere der Blüten ist samtbraun. Die
Blütenblätter drumherum leuchten in einem satten Gelb.
Abends schimmern die letzten Sonnenstrahlen durch die sattgrünen Blätter des
Baums im Hof. Die Luft fühlt sich dabei trocken an. Es regnet selten. Die Hitze
macht uns müde.
Das Fliegen fällt uns dann schwer. Die Flügel wollen nicht so leicht schwingen.
Wir sind froh, wenn
die dritte Zeit beginnt. Die Windzeit.
Der Herbst bringt zahlreiche Farben auf den Tisch.
Kleine runde Kürbisse in orange, grün und gelb liegen dicht beieinander.
Ab und zu flattern ein paar lose bunte Blätter vom Baum herein.
Die letzte Zeit ist
weiß. Es ist der Winter. Die Wasserzeit.
Grüne Nadelzweige liegen zu einem Kranz gebunden auf dem Tisch. Ein paar rote
Kugeln und vier Kerzen zieren das Gebinde.
Im Hof steht der Baum wie ein Gerippe.
Und wenn es schneit, liegt der Schnee auf den Ästen. Er hüllt alles ein. Es
klingt, wie wenn man Watte knautscht. Alles ist still.
Twiggy ist
mittlerweile seit vier Zeiten weg.
Ich fliege meine Runden allein.
Ich picke die Körner auf. Nur die hellen und die weißen.
Ich knabbere am Salatblatt. Nur am weißen Strunk.
Die Trauben und Tomaten lasse ich stecken. Nur der Blumenkohl oder das weiße
Innere der Gurkenscheibe schmecken mir.
Deshalb bin ich ein Albino. Das hat Twiggy gesagt.
Das leuchtet mir ein. Twiggy hat nur die grünen Ränder der Salatblätter
geknabbert. Brokkoli und Honigmelone liebte sie über alles. Die gelben und
grünen Körner, besonders die Kürbiskerne, waren ihr am liebsten.
Twiggy war grün und gelb.
Anfangs sorgt sich
Maria um mich, wie sie es immer getan hat.
Bis der Frühling, die Erdzeit, wieder Einzug hält.
Zweimal vergisst Maria das Tuch über den Käfig zu legen.
Dreimal zieht sie den ganzen Tag das Tuch nicht ab. Trotz meines lauten Piepens
und Tschilpens.
Seit der Wasserzeit spricht sie kaum zu mir. Manchmal vergisst sie, das Türchen
am Käfig zu schließen. Ich fliege immer zurück hinein.
Maria schläft sehr viel auf dem Sofa.
Sie bekommt kaum noch Besuch.
Nicht wie früher, wo es oft frischen Kaffee und Kuchen gab.
Der Tisch war dann festlich gedeckt. Es saßen immer Menschen bei ihr. Sie
blieben meist bis in den Abend hinein.
Der Besuch kommt nur noch kurz vorbei.
Keine Musik. Kein Kuchen. Kein Kaffee.
Ein Schulterklopfen und Maria ist wieder allein.
Ein paar Tage später
öffnet Maria das Türchen und verlässt den Raum.
Als ich herausfliege, erfasst mich eine kleine Windböe.
Das ist ungewöhnlich.
Das Fenster steht sperrangelweit offen.
Ich lande auf dem Fenstersims und klettere auf den hölzernen Rahmen.
Der Ausblick ist atemberaubend.
Alles da draußen wirkt riesengroß.
Der große Baum steht inmitten des Hofes. Er wirkt vom Fenster aus um ein
Mehrfaches größer.
Das Gezwitscher der zahlreichen Vögel betört mich.
So viel Flattern auf einmal.
Ich höre die kleinen grünen Triebe der Blätter und Äste sprießen. Das „Rutschel
– Ritsch – Knirsch – Wisch“ und „Schwurbel – Schwapp – Schrabb – Schrabb“
dringt zu mir.
Ein neuer Klang mischt sich dazu: „Rassel – Quassel – Schnitt – Quitt“. Das
Gras um den Baum herum wächst unaufhörlich.
Ich hüpfe auf den
Steinsims vor dem Fenster.
Dort rieche ich die andere Luft, die hier draußen herrscht. Sie ist frischer
und würziger.
Und der Wind zerzaust mein Gefieder, bläht es auf.
Da rauscht ein großer, braunschwarzer Vogel dicht an mir vorbei. Er krächzt mir
zu:
Hey, du Farbloser, du!
Und verschwindet.
Ich piepse ihm hinterher, dass ich Hansi heiße und ein Albinosittich bin.
Ein grau und braun gefiedertes kleines Ding schießt aufgeregt auf mich zu. Es
landet mit einer wagemutigen Wendung nahe neben mir.
„Leg dich nicht mit Darky an. Der schluckt dich weg in Null-komma-nichts.“
„Und wer bist du?“, tschilpe ich zurück.
„Das tut nichts zur Sache. Ich warne dich nur. Bleib, wo du bist. In
Sicherheit!“
Und schon ist er weg.
Neugierig geworden, luge ich einmal um die Ecke.
Da starren mich zwei grüne Augen an. Sie gehören zu einem haarigen Wesen.
Das Fell ist rot, mit hellen Streifen durchsetzt. Seine Ohren stehen gespitzt
vom Kopf ab.
Es tut so, als ob es aus Stein ist. Es bewegt sich nicht.
Ich starre zurück.
Schließlich hebt es eine Tatze und setzt sie auf die Verlängerung des Steinsims
seines Fensters.
Die Zeit hält an. Wir beide halten die Luft an.
Das Wesen versucht, den schmalen Sims zwischen seinem Fenster und meinem
Fenster entlang zu balancieren.
Ich bleibe, wo ich bin, und rühre mich nicht.
Nachdem das Wesen mehrmals fast abgestürzt ist, zieht es sich wieder zurück.
Ich starre es weiter an. Dann verschwindet es wieder im Fenster.
Eine weitere Böe
erfasst mich und ich breite meine Flügel aus. Dann hebe ich ab.
Mit schnellen und heftigen Flügelschlägen versuche ich zum Baum zu gelangen.
Mein Blick fällt auf einen Ast.
Kurz bevor ich
aufsetzen kann, schwebt ein Schatten über mir. Er verdeckt das Licht. Kälte
wirft sich über mich.
Ich lande auf dem Ast, der ein paar Mal nach wippt.
„Na du, farbloses Nichts“, krächzt mich der braunschwarze Vogel von vorhin an.
Darky setzt sich mit Schwung auf den Ast neben mir.
„Oh, wenn ich nichts bin, was willst du dann von mir“, piepse ich zurück.
„Dich fressen“, klappert er und schwingt heftig mit seinen Flügeln.
„Das hat das rote, haarige Wesen auch schon probiert“, tschilpe ich ihm
entgegen.
„Die doofe Katze Rasty? Nun, dann darf ich mich auf einen leckeren Happen
freuen.“
Darky wetzt seinen spitzen und gekrümmten Schnabel am Ast über ihm.
„Oh, da bin ich nicht so sicher.“
Ich bleibe mit hoch erhobenen Kopf auf dem Ast sitzen.
„Was ist das Problem?“
Darky hüpft bis an das dünne Ende seines Astes.
„Ich bin weiß.“
Dabei hebe ich triumphierend den Kopf.
„Na und?!“
Darky ist echt schwer von Begriff.
„Wenn du weißes Zeug pickst, dann wirst du auch weiß!“
„Wer sagt das“, krächzt Darky zurück.
„Twiggy mochte nur grünes und gelbes Futter und war selber grün und gelb. Ich
mag nur Weißes. Und bin weiß. Logisch, nicht?“
„Aha!“
„Du bist, was du ißt.“
„Hast du keine Angst von mir gefressen zu werden?“
„Wieso sollte ich?“
Ich spreize meine weißen Flügel.
„Ist ja echt alles weiß an dir!“
Darky springt mit gespreizten Flügeln auf meinen Ast herüber.
Er pickt eine Feder aus meinem rechten Flügel. Das tut weh.
Dann picke ich eine schwarze Feder aus seinem linken Flügel.
Darky fliegt auf und will sich auf mich stürzen.
Ich starre ihm entgegen.
In diesem Moment stürmt ein Schwarm weißer Vögel auf uns zu.
Sie sausen um den Kopf von Darky. Sie gurren und picken. Sie rupfen ihm weitere
Federn aus.
Ich nutze die Möglichkeit und flattere auf dem nächstbesten Ast weiter oben.
Weiße und schwarze Federn fliegen um das Geschehen herum.
Schließlich rauscht Darky davon.
Der weiße Vogelschwarm lässt nicht von ihm ab. Sie verfolgen ihn, bis er über
den Dächern verschwindet.
Es herrscht für einen
Moment Stille.
Kein Wind geht. Kein Laut ist zu hören.
Wenn man genau lauscht, ist wieder das Wachsen der Blätter, Triebe und des
Grases unter dem Baum zu hören.
Die eine schwarze Feder halte ich dabei immer noch im Schnabel.
Ein Brummen und
Schnurren schreckt mich auf.
Das rote haarige Wesen krallt sich in die Rinde des Baumstamms unter mir. Es
kommt gut voran und nähert sich meinem Ast.
Es ist die Katze von vorhin am Fenstersims: Rasty.
Ich flattere einen Ast höher. Das Schnurren verfolgt mich.
Also fliege ich höher und höher. Bis ich oben in der Baumkrone sitze.
Rasty folgt mir und schwankt auf den dünnen Ästen.
Ich kann ihren fischigen Atem riechen.
„Woher hast du die schwarze Feder“, maunzt sie mir zu.
„Von Darky.“
„Geklaut?“
„Gerupft!“
Dann fliege ich in die Höhe. Zum blauen Himmel.
Die Katze springt hinterher, verfehlt mich und stürzt zurück in den Baum.
Rasty landet auf einem Ästchen. Das kracht ab. Hält ihrem Gewicht nicht stand.
Sie krallt sich am Stamm fest. Weit oben.
Ich fliege so hoch
hinaus, dass ich über die Dächer hinweg sehen kann. Weit und breit nur rote
Ziegel. Schornsteine stoßen Rauch aus.
Das ist nichts für mich.
Ich flattere zwischen den Ästen des Baumes hindurch, rausche an der laut
miauenden Katze vorbei.
Zurück zum Fenster.
Von dort aus beobachte ich Rasty.
Sie sitzt im Baum fest und gibt nun schreiende Laute von sich.
Das dauert, bis es dunkel wird.
Ein paar der weißen Vögel nehmen neben mir Platz. Sie gurren.
Vom Fenstersims aus schauen wir zu, wie Männer mit einer Leiter Rasty vom Baum
holen.
Der Himmel wird
schwarz. Einzelne Sterne funkeln. Ich sitze allein auf dem Sims.
Auf dem Sofa liegt Maria. Sie bewegt sich nicht.
Ich fliege zu ihr und lande auf ihrer Brust und halte inne.
Keine Geräusche.
Keine Bewegung.
Ich fliege in meinen Käfig, knabbere ein paar Körner und setze mich auf meine
Lieblingsstange.
Drei Mal wird es
dunkel und wieder hell.
Keiner wirft ein Tuch über den Käfig.
Keiner tauscht das Wasser aus.
Keine neuen Körner, keine frischen Salatblätter.
Maria liegt da und rührt sich nicht.
Männer in Schwarz
kommen. Dann ist Maria weg. Sie verschwindet in einem silbernen Kasten.
Eine helle, glockenklare Stimme erscheint vor dem Käfig, spricht mit mir. Ihre
Hände sind rosa, zart und mit vielen Ringen bestückt.
Sie wirft das Tuch über den Käfig. Dann wird alles hochgehoben.
Alles schwankt. Ich halte mich mit den Krallen an einer Stange fest.
Sie trägt den Käfig über die Treppen nach unten aus dem Haus. Dann verfrachtet
sie mich in ein Auto und fährt weiter zu einem neuen Haus.
Der neue Käfig ist
riesig. Neun Vögel in verschiedenen Farben und Größen fliegen dort umher.
Das Wasser wird täglich ausgetauscht.
Es gibt jeden Tag bunte Körner.
Jeden Abend hängen Gemüse, Obst und Knabberstangen an den Stäben.
Im Raum dürfen wir nicht fliegen. Der Käfig ist groß genug. Das reicht aus.
Ein Tuch wird nie über uns gelegt.
Einen Baum sehe ich nicht.
Auch höre ich keine Blätter, keine Zweige oder Gras wachsen.
Am Anfang ignorieren
mich alle.
Keiner piepst oder tschilpt mit mir.
Keiner setzt sich neben mich auf die Stange.
Die schwarze Feder von Darky habe ich behalten.
Keiner traut sich an die Feder heran.
Ich hüte sie wie meinen roten Augapfel.
Der
größte Vogel im Käfig, ein Papagei, ist harmlos.
Der kleinste, ein blauer Wellensittich, plustert sich enorm auf. Das ist aber
nicht mehr als viel Luft.
Lange habe ich den knallgelben Sänger beobachtet.
Er nennt sich Kann-Arie.
Er frisst alles mögliche durcheinander:
Grün, rot, braun, lila und weiß.
Heute habe ich ihn gefragt, wieso er denn komplett gelb sei.
Zuerst versteht er es nicht.
Ich kläre ihn auf.
Er legt seinen Kopf schräg und gibt mir folgende Antwort:
„Man ist das, was man sein möchte.“
Also stelle ich mich vor: „Hallo, ich bin Blacky.“
Und Kann-Arie singt zurück: „Freut mich, Bläckieeeee!“
Jochen Heckmann ist ein professioneller Bühnentänzer, Tanzpädagoge und Choreograf. Er tanzte in Ensembles und Theatern in Deutschland und der Schweiz. Seit 2013 ist er Künstlerischer Direktor der Höheren Fachschule für Bühnentanz in Zürich. Für seine Tanzschaffen erhielt er zahlreiche internationale Preise und Auszeichnungen. Seit 2005 schreibt er Kurzprosa, Erzählungen, Lyrik und Essays. Für seine Kurzprosa „Grüne Füße“ erhielt er 2008 den Heinrich-Vetter-Literaturpreis. Zur Zeit schreibt er an seinem ersten Erwachsenen-Roman.