Bagger·fahren verboten
von Inken Kahlstorff
„Boa!“, sagt
Kalle. „Bagger!“
„Jo“, sage ich. „Boa, Bagger.“
Ich gehe jeden Tag Bagger auf der Baustelle gucken.
Heute ist Kalle mitgekommen zur Baustelle.
Sonst geht er in der Mittags·pause lieber in die Imbiss·bude.
Kalle und
ich haben uns Stullen mitgebracht.
Wir stehen am Bauzaun. Die Baustelle ist riesig.
Gebaut wird hier nichts.
Die Baustelle ist eigentlich eine Abriss·stelle.
Das Hochhaus wird abgerissen.
Noch überragt das Hochhaus alle Häuser im Viertel.
20 Stock·werke zähle ich.
Die Fassade ist aus weißen Platten.
Weißer Riese heißt das Hoch·haus im Viertel.
Jetzt trägt
der weiße Riese ein Bau·gerüst.
Das Gerüst ist auch 20 Stock·werke hoch.
„Eingerüstet heißt das“, erkläre ich Kalle.
„Das Haus ist eingerüstet.“
Ich habe ein Buch über Bagger und Baustellen
mit Bildern und Fachwörtern.
Kalle nickt und beißt in seine Stulle.
Auf dem
Gerüst arbeiten Bau·arbeiter.
Die Arbeiter entfernen die weißen Platten,
eine nach der anderen.
Bald ist der weiße Riese nicht mehr weiß.
Bald ist der Riese kein Riese mehr.
Bald gibt es hier kein Hoch·haus mehr.
Vor dem Hoch·haus ist das Park·haus.
Das Park·haus liegt unter
der Erde,
drei Stock·werke tief. „Eine
Tief·garage“, sagt
Kalle.
Auch das Park·haus wird abgerissen,
oder: abgebaggert.
Bagger graben drei Stock·werke tief eine Grube.
Da unten reißen sie das Park·haus ab.
Ein Bagger
reißt Beton·wände ein.
Ein Bagger zerlegt die Wände.
Ein Bagger sortiert den Bauschutt:
Metall auf einen
Haufen, Steine auf einen anderen.
Ein Bagger schaufelt Schutt in einen Container.
Die Bagger
haben verschiedene Aufsätze:
Ein Bagger hat eine Schaufel,
einer einen Bohrer,
einer einen Magneten, um das Metall auszusortieren,
einer hat eine Zange zum Greifen und Schneiden.
Ich erkläre
Kalle, wie die Bagger heißen.
Zum Beispiel: Hoch·löffel·bagger.
Und wie die Bagger funktionieren: mit Hy·drau·lik.
In der
Führer·kabine sitzt der
Bagger·fahrer.
Der Fahrer lenkt den Gelenk·arm mit dem Aufsatz und fährt den Bagger.
Auf Raupen·ketten rollen
die Bagger über die Baustelle.
„So einen
Bagger will ich auch mal fahren!“, sagt Kalle.
„Ich auch!“, sage ich.
Und zwar am liebsten den mit der Greif·zange.
Schaufelbagger sind Sand·kiste, irgendwie Kinder·garten.
Bagger mit Zange sind cooler.
Mit der Zange reißt der Bagger Wände ein.
Mit der Zange sammelt er Stangen und Blech.
Mit der Zange sortiert er Kabel und Drähte.
Mit der Zange schneidet der Bagger auch Drähte.
Ein Bagger
zerrt an einer Wand aus Beton.
Er ächzt, sein Hinterteil bäumt sich auf.
„Rumps!“ Die Wand stürzt ein.
Kalle steht mit
offenem Mund am Zaun.
Seine Stulle hat er ganz vergessen.
Ich glaube, Kalle kommt morgen wieder mit zur Baustelle.
Ein Bagger rumpelt
mit einem Stück Metall im Maul die Rampe hoch.
Die Bagger sehen aus wie Urzeit·viecher, quietsch·gelbe Dinos,
die an Häusern grasen und Höhlen aus Schutt und Schrott bauen.
„Wir könnten
doch … Wir könnten nach Feier·abend herkommen …“
Ich rüttle am Zaun. „… und auf die Baustelle …“
„Vergiss es!“, sagt Kalle. „Ist verboten.“
Er zeigt auf ein Schild: „Betreten verboten.“
„Wenn wir
abends … im Dunkeln …?“
„Spinnst du?!“, sagt Kalle. „Im Dunkeln ist es auch verboten.“
„Außerdem sind da Kameras.“
Kalle zeigt auf die Kameras oben hinterm Zaun.
„Und gefährlich ist es auch.“
Ich lasse
den Zaun los und sage nichts mehr.
„Träum weiter“, sagt Kalle.
Dann sagt Kalle: „Die Mittags·pause ist um. Komm, lass uns gehen.“
***
Nachts bin ich
wieder an der Baustelle.
Die Bauarbeiter haben Feierabend.
Die Bagger schlummern in ihrer Grube bei der Tief·garage.
Der weiße Riese ragt still in die Nacht.
Ich stelle
mich an den Zaun.
Da sehe ich das Schloss.
Es ist nicht abgeschlossen!
Die Arbeiter müssen vergessen haben, es zu schließen.
Ich starre auf das Schloss.
Mein Herz klopft.
„Verboten!“, höre ich Kalle sagen.
Ich blicke mich um.
Niemand auf der Straße.
Auf der Baustelle ist alles dunkel.
Schnell
schiebe ich den Zaun einen Spalt weit auf
und schlüpfe hindurch.
Mein Herz pocht lauter.
Ich sehe mich noch mal um.
Niemand da.
Ich laufe zu den Baggern in die Grube.
Ich stolpere über ein Metall·teil, rappele mich auf, renne weiter.
Den Hang runter zu den Baggern rutsche ich.
Dann stehe
ich vor dem Bagger, dem mit der Greif·zange.
Der Bagger ist riesig.
Oben, vom Zaun aus, sah er viel kleiner aus.
Das Raupen·fahrwerk reicht
mir bis zum Kopf.
Zur Fahrer·kabine muss ich hoch·sehen.
Mein Herz
rast.
Ich steige auf die Raupen·räder,
öffne die Kabinentür und hieve mich auf den Sitz.
„Boa!“, rufe ich, als der Sitz unter meinem Hintern federt.
Vor dem Kabinen·fenster sind dicke Schutz·gitter.
„Gefährlich!“, höre ich Kalle sagen.
Am Boden der
Kabine sind Pedale.
Ein großer Schalt·knüppel ragt in der Mitte auf.
Auf dem Armaturen·brett sind Hebel und Knöpfe.
„Kannst du das überhaupt?“, höre ich Kalle fragen.
Ich denke an mein Buch mit den Bildern und Fachwörtern.
Hy·drau·lik fällt mir ein. „Hü!“, sage ich.
Ich greife einen Hebel und drücke einen Fuß aufs Pedal.
Mein Bagger schnauft und rumpelt vorwärts.
Ich drücke
einen Knopf. Das Licht am Kran·arm geht an.
Ich drehe einen Hebel. Der Arm bewegt sich!
Ich fahre zur Beton·wand, dem Rest vom Park·haus.
Dann reiße ich mit dem Greifer ein Stück Beton ab.
Rumps!
Ich greife ein Stück Stahl, schwenke den Arm
und lass den Stahl in einen Container plumpsen.
Ups!, daneben.
Noch mal: absenken, greifen, Arm hoch, zur Seite schwenken, Greifer öffnen:
Treffer!
Aus Spaß drehe ich die Kabine nach links und rechts,
nach rechts und links und einmal im Kreis.
Ein Bagger-Freuden·tanz.
Mein Bagger brummt.
Plötzlich
macht es: Piep, piep. Piep, piep.
„Kamera!“, höre ich Kalle sagen. „Alarm·anlage!“
Mist!
Schnell bugsiere ich den Bagger zurück auf seinen Schlaf·platz.
Piep, piep. Piep, piep.
Jetzt aber dalli!
Ich nehme meine Hände und Füße von den Hebeln und Pedalen
und schalte den Motor aus.
Piep, piep. Piep, piep.
Nix wie weg!
Ich reiße die Kabinentür auf.
Piep, piep. Piep, piep.
„Träum weiter!“, höre ich Kalle sagen.
Ich wache auf.
Piep, piep. Piep, piep.
Der Wecker!
Ich schalte ihn aus. Und seufze.
***
Kalle kommt heute
wieder mit zur Baustelle Bagger gucken.
Statt Pommes in der Imbiss·bude gibt es wieder Stullen vorm Bauzaun.
Bau·arbeiter klettern auf dem Gerüst
und entfernen die weißen Platten.
Fast alle Platten sind schon ab.
In der Grube schuften die Bagger.
Vom Park·haus unter der
Erde steht nur noch eine Wand.
Auch mein Bagger mit dem Greif·arm ist da.
„Der sieht heute irgendwie müde aus“, sage ich.
Kalle guckt mich an. „Du Traum·tänzer“, sagt er.
„Boa, Bagger!“, sage ich und knuffe Kalle in die Seite.
„Sollen wir nicht doch … nachts … heimlich?“, fragt Kalle.
„Nein“, sage ich. „Ist verboten. Und gefährlich.“