Alles neu
von Beate Fischer
Manche Leute ziehen
gerne um.
Ich nicht.
Aber es ging nicht anders.
Das macht es allerdings nicht besser.
Ich bin sauer.
So richtig stinksauer.
Mein Herz fühlt sich ganz eisig an.
Als ob außen herum eine Eisschicht immer dicker wächst.
Und in dem Eisklumpen trommelt das Herz wie wild.
Ich habe Lust, etwas kaputt
zu machen.
Am liebsten möchte ich eine Fensterscheibe einwerfen.
Sie soll in tausend Splitter zerspringen.
Ich möchte gegen die Tür treten.
Sie soll mit einem lauten Knall zuschlagen.
Soll ich euch was
verraten?
Das mit der Tür habe ich vorhin gemacht.
Meine Mitbewohnerinnen sind ganz schön erschrocken.
Aber sie haben mir überhaupt nicht leidgetan.
Ich wollte sie erschrecken.
Ich bin nämlich auch auf die beiden sauer.
Sie heißen Meike und Katrin.
Sie kennen sich schon lange.
Sie hocken immer zusammen.
Dann kichern sie.
Bestimmt machen sie sich über mich lustig.
Das macht alles nur noch schlimmer.
Manchmal möchte ich ihnen ins Gesicht schlagen.
Aber das mache ich dann doch nicht.
Ich habe gelernt, dass ich immer höflich sein soll.
Ich habe nämlich in
einem Lebensmittel-Laden gearbeitet.
Dort habe ich vor allem die Regale eingeräumt.
Aber manchmal haben mich die Kunden auch etwas gefragt.
Zum Beispiel:
Wo finde ich denn die Soja-Soße?
Dann habe ich das ganz freundlich erklärt.
Oder: Können Sie mir bitte den Joghurt von da oben herunter holen?
Dann habe ich mich gestreckt und den Joghurt geholt.
Weil ich ziemlich groß bin.
Eigentlich bin ich
also ganz nett.
Nein, ich war nett.
Jetzt bin ich sauer.
Vielleicht geht das nie mehr weg.
Das macht mich manchmal ziemlich traurig.
Ich will euch erzählen, wie es dazu gekommen ist.
Es hat vor 2 Monaten
angefangen.
Damals habe ich in einem großen Haus gewohnt.
Gemeinsam mit vielen anderen Leuten.
Die meisten hatten eine schlimmere Behinderung als ich.
Sie sind zum Beispiel im Rollstuhl gefahren.
Oder sie konnten nicht sprechen.
Dort gab es viele Mitarbeiter.
Immer war jemand da, mit dem ich reden konnte.
Den ich um Hilfe bitten konnte.
Ich musste kaum etwas selbst machen.
Ich musste nicht selbst kochen.
Aber ich konnte kochen, wenn ich Lust dazu hatte.
Ich musste meine Wäsche nicht selbst waschen.
Dafür hatten wir Mitarbeiterinnen in der Hauswirtschaft.
Das war wirklich gemütlich.
Ich bin von der Arbeit gekommen und konnte mich ausruhen.
Aber dann hat unsere
Hausleitung gesagt:
Das Haus ist alt.
Und die Zimmer sind zu klein.
Wir müssen das Haus renovieren.
Es braucht neue Fenster.
Es braucht neue Wasserleitungen.
Der Boden muss neu gemacht werden.
Die Zimmer müssen größer werden.
Deshalb gibt es später weniger Wohnplätze.
Solange das Haus renoviert wird, kann niemand darin wohnen.
Deshalb mussten alle
umziehen.
Die meisten dürfen wieder zurückziehen.
Wenn das Haus renoviert ist.
Wahrscheinlich in einem Jahr.
Aber zu mir haben die Mitarbeiter
gesagt:
Julia, du bist doch fit.
Du könntest auch in einer Wohngemeinschaft wohnen.
Stell dir vor:
Du könntest viel mehr selbst entscheiden.
Du könntest viel mehr machen, was du möchtest.
Du könntest ganz viel lernen.
Aber wenn ich gar
nicht mehr selbst entscheiden will?
Wenn ich jetzt schon mache, was ich möchte?
Wenn ich gar nichts lernen will?
Das habe ich auch
gesagt.
Doch die Mitarbeiter haben lange auf mich eingeredet.
Und am Ende war ich einverstanden.
Sie haben gesagt:
Du schaffst das.
Das wird dir gefallen.
Ich war dann schon ein
bisschen stolz.
Die Mitarbeiter trauen mir ganz schön viel zu.
Deshalb habe ich gesagt:
Ja, ich will umziehen.
Was habe ich jetzt
davon?
Nur Ärger.
Und ich bin sauer.
Denn es ist noch
schlimmer gekommen.
Mein Laden hat zugemacht.
Der Besitzer war alt.
Er ist in Rente gegangen.
Niemand wollte den Laden übernehmen.
Dort haben nämlich nicht mehr viele Leute eingekauft.
Der Laden war auch ziemlich klein.
Und in der Nähe gibt es schon einen anderen Laden für Lebensmittel.
Aber die wollten mich nicht.
Das macht mich auch
sauer.
Jetzt muss ich mich auch noch an eine neue Arbeit gewöhnen.
Wir haben wieder einen Laden gefunden, in dem ich arbeiten kann.
Ich habe ihn mir schon mal angeschaut.
Der ist ganz anders.
Viel größer.
Viel komplizierter.
Ich habe Angst, dass ich die Arbeit nicht schaffe.
Und wenn ich Angst habe, ärgere ich mich.
Jetzt ist es also
Montagmorgen.
Ich muss zum ersten Mal zu meiner neuen Arbeit.
Zu Fuß.
Es ist nicht sehr weit.
Den Weg habe ich mit einem Mitarbeiter geübt.
Er hat mich gefragt, ob er mich beim ersten Mal begleiten soll.
Aber ich habe gesagt:
Lass mich in Ruhe.
Das schaffe ich alleine.
Doch jetzt bin ich ganz kribbelig.
Und sauer.
Außerdem ist es draußen eiskalt.
Der Februar ist fast vorbei.
Hoffentlich kommt bald der Frühling.
Ich gehe also die
Treppe hinunter.
Und aus dem Haus.
Dann drehe ich mich nach rechts.
Nach ein paar Schritten bin ich an der Ampel.
Ich warte, bis für die Fußgänger das grüne Männchen leuchtet.
Dann überquere ich die Straße.
Auf der anderen Straßenseite drehe ich mich nach links.
Nach 10 Schritten drehe ich mich nach rechts.
Ich biege in einen schmalen Fußweg ein.
Der Fußweg führt durch den Park.
Dort habe ich mir ein
paar Stationen gemerkt:
Zuerst kommt ein kleiner Kiosk.
Dort gibt es nichts.
Er ist geschlossen.
Vielleicht weil noch Winter ist.
Vielleicht gibt es dort Eis, wenn es wärmer wird.
Dann kommt ein
Spielplatz.
Dort sind morgens keine Kinder.
Jetzt im Winter.
Nachmittags sind es ganz wenige.
Nur bei schönem Wetter.
Auch bei schönem Wetter ist es im Winter kalt.
Im Frühjahr sind bestimmt mehr Kinder dort.
Und im Sommer.
Und im Herbst.
Manchmal wäre ich selbst gerne ein Kind.
Dann würde ich schaukeln.
Und wippen.
Aber das ist mir peinlich.
Schließlich bin ich erwachsen.
Danach kommt ein
kleiner Teich.
Dort schwimmen zwei Enten.
Jetzt im Winter.
Ob im Frühling mehr Enten kommen?
Am Teich steht eine Bank.
Dort sitzt eine alte Frau.
Obwohl es Winter ist.
Die habe ich schon gesehen, als ich den Weg geübt habe.
Das habe ich mir gut gemerkt.
Weil ich mich darüber gewundert habe.
Es ist doch so kalt.
Die alte Frau schreibt.
Sie sitzt direkt unter einer Laterne.
Und schreibt.
Ich gehe vorbei.
Die alte Frau schaut mich an.
Dann lächelt sie.
Ich gucke ganz schnell weg.
Freundlichkeit kann ich gerade gar nicht vertragen.
Ich trete mit dem Fuß nach einem Mülleimer am Wegrand.
Aua.
Manchmal tut es ganz schön weh, sauer zu sein.
Nach der Bank mit der
Frau geht es links um die Ecke.
Dann hört der Fußweg auf.
Und ich stehe vor meinem Arbeitsplatz.
Ich atme tief durch und gehe hinein.
Am Nachmittag habe ich
Feierabend.
Die Arbeit war sehr anstrengend.
Ich habe viel falsch gemacht.
Das hat mich geärgert.
Die Chefin hat gesagt:
Das lernst du alles noch.
Aber ich will gar nichts lernen.
Und deshalb bin ich immer noch sauer.
Mein eiskaltes Herz
klopft.
Meine Füße sind eiskalt.
Obwohl ich Stiefel trage.
Meine Hände sind eiskalt.
Obwohl ich Handschuhe trage.
Meine Ohren sind eiskalt.
Obwohl ich eine Mütze trage.
Meine Nase ist eiskalt.
Gibt es eigentlich auch Mützen für die Nase?
Als ich am Teich
vorbei komme, sitzt da die alte Frau.
Sie schaut mich an.
Sie lächelt.
Ich gucke ganz grimmig.
Dann gucke ich schnell weg.
Und so geht es jeden Tag.
Ich bin zu Hause.
Das Zuhause nervt.
Mein Zimmer ist so ungemütlich.
Alles liegt rum.
Meike und Katrin
nerven.
Sie sind die ganze Zeit so gut gelaunt.
Die Mitarbeiter
nerven.
Sie sind nur selten da.
Und wenn sie da sind, soll ich immer was machen.
Aufräumen.
Kochen.
Reden.
Ich gehe zur Arbeit.
Die Arbeit nervt.
Das ist alles viel zu kompliziert.
Die Chefin nervt.
Sie sagt, ich bin zu unfreundlich.
Jeden Tag gehe ich
durch den Park.
Morgens hin.
Nachmittags zurück.
Immer sitzt die alte Frau am Teich.
Obwohl es eiskalt ist.
Und immer schreibt sie.
Wenn ich komme, sieht sie zu mir.
Und lächelt.
Ich gucke sauer.
Und ich gucke weg.
Am Dienstag.
Am Mittwoch.
Am Donnerstag.
Und am Freitag?
Auf dem Weg nach Hause komme ich am Teich vorbei.
Die Frau schaut mich an.
Und winkt.
Dann steht sie auf.
Warum steht sie auf?
Bestimmt ist ihr kalt.
Aber sie sieht gar nicht so aus.
Sie winkt mir zu.
Soll ich kommen?
Sie nickt.
Was will sie nur von mir?
Vorsichtige gehe ich näher heran.
Sie streckt mir einen Zettel entgegen.
Nimm, sagt sie.
Ich frage: Warum?
Weil es dir gehört, antwortet sie.
Ich gucke dumm aus meiner warmen Wäsche.
Habe ich etwas verloren?
Ich taste meine Taschen ab.
Alles da: Geldbeutel, Handy, Taschentücher.
Die Frau lächelt.
Du hast nichts verloren, sagt sie.
Ich schenke es dir.
Es ist ganz neu für dich.
Aha.
Ich nehme also den Zettel.
Darauf stehen ein paar Zeilen mit Wörtern.
Ein Gedicht?
Nimm es mit, sagt die Frau.
Nimm dir Zeit zum Lesen.
Dann setzt sie sich hin und schreibt weiter.
Sie beachtet mich überhaupt nicht mehr.
Ich bin verwirrt.
Ich stecke den Zettel in die Jackentasche.
Und mache mich auf den Heimweg.
Vorbei am Spielplatz.
Am Kiosk.
Über die Ampel.
Ins Haus hinein.
Die Treppe hoch.
In mein Zimmer.
Die ganze Zeit denke ich:
Was steht bloß auf dem Zettel?
Ich ziehe ihn aus der Tasche.
Und lese:
Dein Lächeln ist wie die Sonne.
Es kann eisige Herzen wärmen.
Fremde Herzen und dein eigenes Herz.
Wenn du lächelst, blüht dein Leben auf wie die Tulpen im Frühling.
Hä?
Was soll das denn bedeuten?
Was weiß diese Frau von meinem Herzen?
Lächeln ist ja wohl das Letzte, was ich gerade will.
Ich stapfe in meinem Zimmer auf und ab.
Richtig laut.
Zum Bett.
Zum Sessel.
Zum Fenster.
Zum Bett.
Zum Sessel.
Zum Fenster.
Ich schaue hinaus.
Aber ich kann nichts sehen.
Draußen ist es schon dunkel.
Mein Gesicht spiegelt sich in der Fensterscheibe.
Es schaut mich grimmig an.
Ich bin ja auch sauer.
Muss das immer so bleiben?
Ich hauche auf die
Fensterscheibe.
Dann male ich ein Gesicht auf das feuchte Glas.
Einen Kreis.
2 Punkte – die Augen.
Einen Haken – die Nase.
Einen Strich – den Mund.
Es sieht nicht fröhlich aus.
Warum auch?
Ich wische es weg.
Hauche noch einmal.
Male einen Kreis.
2 Punkte.
Einen Haken.
Einen Bogen.
Das Gesicht lächelt mich an.
Ich lächle zurück.
Mein Herz schlägt.
In meiner Brust wird es wärmer.
Mein Mund ist ganz trocken.
Ich gehe in die Küche,
um etwas zu trinken.
Ich höre Meike lachen.
Dann lacht auch Katrin.
Die beiden sitzen im Wohnzimmer.
Ich gehe zur Wohnzimmertür.
Im Fernsehen läuft ein Film.
Ich schaue zu.
Der Film ist lustig.
Ich muss lächeln.
Meike dreht sich um.
Dann stupst sie Katrin an.
Katrin dreht sich um.
Beide lächeln.
Dann sagt Katrin:
Setz dich doch zu uns.
Ich nicke.
Setze mich.
Lächle immer weiter.
Das Eis taut langsam.
In meinem Herzen wird es Frühling.
Vielleicht hat die alte Frau recht.
Vielleicht hilft lächeln.
Vielleicht nicht immer.
Aber heute.
Beate Fischer wurde 1966 geboren und lebt schon immer in der Nähe von Stuttgart. Sie hat verschiedene Berufe. Alle haben etwas mit dem Schreiben zu tun. Lesen und schreiben sind auch ihre größten Hobbys. Einige von ihren Kurzgeschichten und Gedichten sind schon in Büchern erschienen.