Wenn du stirbst, dann stirbst du eben Vorlesen

30. Jul 2021Julia Beylouny
Blumenwiese, Bild von  Lee_seonghak auf Pixabay

Ich sehe, wie dein Herz schlägt. Es hämmert ganz schnell. Bumm, bumm, bumm, bumm. Hast du Angst so wie ich? Bist du aufgeregt?

Der Arzt schaut auf den Bildschirm. Ich auch. Seine Stirn ist gekräuselt. Meine auch. Ich hoffe, dass alles gut ist. Ich hoffe, dass du gesund bist. Der Arzt schiebt den Kopf des Ultraschallgeräts über meinen dicken Bauch. Dann hält er an. Mal hier und mal dort. Er dreht an Knöpfen, macht das Bild schärfer, zoomt heran.

Es ist dunkel im Behandlungsraum. Der Arzt sagt nichts. Er schaut nur auf den Bildschirm. Ich bin nervös. Wieso sagt er denn nichts? Ich komme mir wie ein Gegenstand vor. Und dich behandelt er auch wie ein Ding. Ich fühle mich ihm ausgeliefert. Er hat die Macht, über Leben und Tod zu entscheiden. Ich schaue auf meinen Bauch. Alles ist voll Gel geschmiert. Das macht es einfacher für das Ultraschallgerät. Ich finde das ziemlich eklig. Gleich brauche ich richtig viele Papiertücher, um das alles abzuwischen.

Endlich atmet der Arzt tief durch. Er putzt den Kopf des Geräts ab und stellt ihn in die Halterung. Dann macht er das Licht an. Im ersten Moment blendet es mich.

„Also“, fängt er an zu reden.

Er schiebt mir die Papiertücher hin. Ich nehme gleich fünf Stück. Mein Herz schlägt schnell. Du kannst es nicht sehen, aber bestimmt hörst du es. Bumm, bumm, bumm, bumm.

Jetzt geht es um Leben und Tod. Um dich. Ich habe Angst. Du auch?

„Ihr Kind ist nicht so entwickelt, wie es sein sollte.“

Für einen Schlag lang stolpert mein Herz. Ich wische immer noch meinen Bauch ab. Ich mache das so, als wäre es die wichtigste Sache der Welt.

„Was heißt das?“, traue ich mich zu fragen. Meine Stimme klingt zittrig.

„Das heißt, dass Ihr Kind wahrscheinlich nicht lebensfähig ist.“

Mir wird schwindelig.

„Es besteht die Gefahr einer Totgeburt“, fährt der Arzt fort.

Totgeburt, hallt es in meinem Kopf nach. Ich werfe die gelverschmierten Papiertücher in den Mülleimer. Mein Mund ist ganz trocken. Der Arzt sitzt jetzt hinter seinem breiten Schreibtisch. Wie früher mein Lehrer in der Schule. Nur sind meine Eltern heute nicht hier. Und es geht nicht um meine Versetzung. Sondern um dich.

„Sollte es zur Geburt kommen, besteht die Möglichkeit, dass Ihr Kind schwerbehindert ist. Falls es überlebt.“

„Warum?“, will ich wissen. „Was hat es denn?“

Ich verstehe das nicht. Du bewegst dich ganz normal. Auf dem Bildschirm hast du am Daumen gelutscht. Du siehst fröhlich und gesund aus.

Der Arzt erklärt mir, dass du Fehlbildungen hast. Irgendwas am Darm und einen Herzfehler. Ich höre nicht richtig zu. Ich kann mich nicht konzentrieren. Ich habe Angst.

„Und was jetzt?“, frage ich. „Also ist es sicher, dass es stirbt?“

„Zu neunzig Prozent.“

In meiner Kehle ist ein dicker Kloß. Er tut weh beim Schlucken. Der Arzt sagt, ich sollte über einen Abbruch nachdenken. Weil ich noch so jung bin. Er sagt, dass ich mir das nicht antun sollte. Und dass ich mein Leben lang ein behindertes Kind pflegen müsste.

„Trauen Sie sich das zu?“, fragt er.

Vor meinen Augen dreht sich alles. Ich weiß nicht, was ich mir zutraue. Woher soll ich das wissen? Je mehr der Arzt sagt, desto mehr bin ich durcheinander. Er tut so, als hätte ich ein Monster im Bauch. Eine Last, die ich abschütteln soll.

Aber ich liebe dich doch! Du bist doch mein kleines Baby! Ich freue mich auf dich! Ich will dich im Arm halten!

Auf dem Weg nach Hause denke ich viel nach. Ich telefoniere mit deinem Papa. Zum Glück ist er auf meiner Seite. Wir wollen zu dir stehen. Wenn du stirbst, dann stirbst du eben. Irgendwann sterben wir doch alle. Aber ich will nicht, dass du wegen dem Arzt stirbst. Wegen mir, oder weil alle sagen, dass du behindert bist. Du stirbst dann, wenn Gott es will.

Heute besuche ich Marvin. Marvin ist mein Cousin. Er ist von Geburt an schwerbehindert und sitzt im Rollstuhl. Er wird nicht mehr lange leben. Marvin liegt seit einiger Zeit nur noch im Bett und braucht Sauerstoff. Er ist erst zweiundzwanzig. Ich will Marvin was fragen. Was wichtiges. Er muss es ja wissen! Wenn er es nicht weiß, wer dann?

„Hi“, sage ich und setze mich an sein Bett.

Marvin grinst mich unter der Maske an. Ich komme ihn oft besuchen. Wir haben als Kinder zusammen gespielt. Da ging es ihm noch besser.

„Wie geht es dem Baby?“, will Marvin wissen. Seine Blicke schielen auf meinen Bauch. Viel bewegen kann er sich nicht mehr. Ich lächle und streichle mit der Hand meine Kugel. Und dann werden meine Augen feucht und ein paar Tränen kullern über meine Wangen.

„Weiß nicht“, flüstere ich. „Der Arzt sagt, es ist behindert und stirbt vielleicht.“

Marvin zuckt mit den Augenbrauen. Er ringt nach Luft. Ohne Sauerstoff geht es gar nicht mehr.

„Ich muss dich was fragen“, sage ich und nehme seine Hand. Sie ist ganz kalt und seine Finger sind knochig. „Wenn du noch mal geboren werden würdest. Wenn du wüsstest, dass du wieder so krank werden würdest. Würdest du noch mal dieses Leben leben wollen? Oder würdest du wollen, dass du gar nicht erst geboren wirst?“

„Nein!“ Marvin antwortet ganz schnell. Er überlegt nicht lange. „Ich würde auf jeden Fall noch mal leben wollen!“

Ich weine. Marvin hat recht. Leben ist wertvoll. Jedes Leben. Ich bringe all meinen Mut auf und bekomme mein Kind. Es stirbt nicht. Es überlebt. Es ist gesund. Der Arzt hat sich geirrt.

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