Verzauberte Jahreszeiten Vorlesen

20. Jan 2023Madita Silbervogel
Verzauberte Jahreszeiten, Bild von Lotta Weiß

Verzauberte Jahreszeiten

In einem dichten Zauberwald steht eine kleine Hütte.
Hier lebt die Hexe Kamira allein mit ihrem Raben Krux.
Kamira ist immer schlecht gelaunt und meckert über alles.
Die anderen Magier mögen das nicht.
Sie meiden sie schon lange.
Die Hexe ist sehr unglücklich über ihr einsames Leben.
Sie kann doch nichts dafür, dass sie keine gute Laune hat.
Das Wetter ärgert sie jeden Tag aufs Neue.
Ständig wechselt es, viermal im Jahr ganz besonders.
Immer muss sie sich neu darauf einstellen.
Nie ist es so, wie sie es gern hätte.

Schlecht gelaunt murmelt die Hexe:
„Im Winter ist es zu kalt, im Sommer zu warm.
Und Frühling und Herbst sind unberechenbar.
Vier Jahreszeiten. Vier!“

Die Hexe Kamira stemmt die Hände in die Hüften.
Der Rabe Krux sitzt auf ihrer Schulter.

„Wofür braucht man bloß vier Jahreszeiten?
Ich will gar keine Jahreszeit mehr!
Weder Jahreszeiten noch Wetter will ich. So!“

Sie stampft mit dem Fuß auf.
Krux erschrickt sich.
Auf einem Stativ in der Mitte des Raums lehnt ein großes Zauberbuch.
Kamira schlägt das magische Werk unter dem Buchstaben „J“ wie Jahreszeiten auf.

Fröhlich jauchzt die Hexe:
„Wie passend!
Mit diesem Zauberspruch sperre ich alle vier Jahreszeiten ein!
Dann ist Schluss mit diesem Wetter-Hin-und-Her!
Kein Wetter nimmermehr!“

Der Rabe Krux krächzt wild und flattert aufgeregt mit den Flügeln.
Die Hexe verscheucht ihn mit einer Handbewegung.

„Ja, ich weiß.
Da steht: Der Spruch ist verboten.
Es ist gefährlich ins Wetter einzugreifen...
Das ist mir egal.“

Die Hexe wird immer rasender.
Krux fliegt verängstigt auf ein Regal in der Ecke der Hütte.

„Sie haben mich doch schon verstoßen.
Was sollen sie denn noch machen?
Sie werden schon sehen.
Mein gehextes Wetter wird ihnen nicht gefallen.
Aber warum sollte es ihnen besser gehen als mir?“

Der Rabe schaut entsetzt.
Kamira hebt ihre Hände beschwörend über das Buch.
Mit bebenden Lippen sagt sie den Zauberspruch auf.
Immer wieder und immer lauter wiederholt sie ihn.
Ihr Körper schüttelt sich und bewegt sich immer wilder.
Sie gerät in Ekstase.
Das Kerzenlicht in der Hütte flackert.
Die Wände wackeln.
Der Rabe wird aus dem Regal geworfen.
Er flattert ängstlich krächzend herum.
Ein greller Blitz durchzuckt den Raum.
Dann ist alles wieder ruhig.
Die Hexe bricht erschöpft zusammen.

Neben der Hütte der Hexe erscheint ein großer, gläserner Kasten ohne Tür.
In diesem durchsichtigen Gefängnis befinden sich vier Gestalten.
Sie schauen sich verdutzt an.
Einer von ihnen ist ein großer, breit gebauter Mann mit weißem Bart.

Er schaut sich fragend um:
„Nanu, was ist passiert? Wo bin ich?
Ich habe gerade ein Nickerchen gemacht.
Oder träume ich?“

Die hübsche, zarte Frau neben ihm kneift ihn in den Arm.

Der Mann zieht seinen Arm weg:
„Aua! Warum haben sie das getan?“

Die Frau lacht beschwichtigend:
„Um ihnen zu zeigen, dass sie wach sind.
Ich bin übrigens der Frühling.
Hallo.“

Der Mann lächelt zurück:
„Na so was. Der Frühling. Ich bin der Winter.“

Eine kleine rundliche Frau nimmt beide überschwänglich in die Arme:
„Endlich sehen wir uns mal zur gleichen Zeit.
Sehr erfreut, der Sommer!“

Ein schlaksiger Typ mit Spazierstock und Hut stellt sich zu den dreien:
„Dann mache ich unser Quartett wohl komplett!
Gestatten Sie, ich bin der Herbst.“

Die vier schauen erstaunt in die Runde.

Die Tage vergehen und unterscheiden sich nicht sehr von den Nächten.
Es gibt kein Wetter mehr.
Keinen Sonnenschein, keinen Regen.
Keinen Schnee, keinen Wind.
Es wächst nichts Neues.
Die Blätter faulen farblos an den Bäumen.
Die Tiere finden keine Nahrung mehr.

Jeden Tag ist die Hexe Kamira noch schlechter gelaunt als zuvor.
Sie ärgert sich nun über das Nicht-Wetter, das sie geschaffen hat.
Wie gewohnt will sie ihre Wut an dem Raben auslassen.
Doch Krux liegt schlapp in seinem Nest.
Ganz abgemagert sieht er aus.
Die Hexe macht sich große Sorgen.
Sie erkennt, wie wichtig der Rabe ihr ist.
Um ihm zu helfen, spricht sie verschiedene Zauberformeln.
Doch keine funktioniert.
Die Hexe ist verzweifelt.
Als einziger auf der Welt ist der Rabe immer bei ihr geblieben.
Er ist ihr treuster Freund.
Sie gibt ihm ein Versprechen.
Ab sofort wird sie lieb zu ihm sein.
Sie wird alles dafür tun, dass er wieder gesund wird.
Die Hexe geht zu dem gläsernen Gefängnis.
Schon von weitem hört sie laute Stimmen.
Sie versteckt sich hinter einem Baum und lauscht.

Zuerst haben sich die vier Jahreszeiten über ihre Zusammenkunft gefreut.
Aber nun streiten sie nur noch.
Jeder von ihnen will die beste Jahreszeit sein.

Der Herbst streckt sich und verkündet stolz:
„Schätzt euch glücklich.
Ihr dürft mich kennenlernen.
Ich bin jawohl die tollste Jahreszeit von allen.
Mehr noch. Ich bin ein wahrer Künstler!
Zu meiner Zeit lasse ich die Blätter in den schönsten Farben erstrahlen.
Und die Sonne scheint im perfekten Winkel auf meine prächtigen Weizenfelder.“

Der Winter schiebt sich empört vor den Herbst.

Mürrisch schaut er auf ihn herab:
„Ach was.
Das ist doch nicht schwer.
Ich schaffe mit nur einer Farbe tausende Abstufungen.
In Weiß sind alle Farben.“

Der Sommer schiebt sich beschwichtigend zwischen die beiden Streithähne:
„Nanana.
Nun hört doch endlich auf zu streiten.
Wir sind alle gleich wichtig.“

Der Frühling lacht verächtlich:
„Lieber Sommer,.
Klar, dass du dich nicht messen willst.
Ich mach doch die ganze Vorarbeit .
Du ruhst dich darauf aus.
Du erntest doch einfach nur die Früchte meiner Arbeit!“

Der Sommer versucht sich zu wehren:
„Zu meiner Zeit herrscht die Leichtigkeit!
Die Menschen lieben es, bei Sonnenschein in der blühenden Natur zu sein.
Sie lieben mich!“

Unbeirrt richtet sich der Frühling an den Winter:
„Du vereist die Böden und alle Natur ist grau und kahl.
Ich erwecke alles wieder zum Leben.
Das ist eine wahre Leistung!“

Der Winter schüttelt den Kopf:
„Aber erst wenn altes vergeht, kann neues entstehen.
Durch mich kann alles ruhen und sich erholen.“

Die Hexe im Versteck hat genug gehört.
Sie geht auf den gläsernen Kasten zu.

Sie spricht die vier Jahreszeiten an:
„Hallo ihr.
Mein Rabe ist krank.
Ihr müsst ihn wieder gesund machen.“

Der Frühling kichert:
„Ach nee, eine Hexe.
Du hast uns doch bestimmt hier eingesperrt.
Und jetzt bittest du uns um Hilfe?
Hexe ihn doch einfach gesund.“

Die Hexe antwortet kleinlaut:
„Das habe ich schon versucht.
Es hat aber nicht geklappt.
Es steht schlecht um ihn.
Habt ihr eben die Wahrheit gesagt?
Hat wirklich jeder von euch so großartige Kräfte?
Dann könnt ihr ihn auf jeden Fall retten!“

Der Winter tritt zur Scheibe des Kastens:
„Oh je, schaut hinaus.
Seht, was uns durch das alberne Gezanke entgangen ist!
Die Welt ist eine andere ohne uns.
Es gibt kein Wetter mehr.
Alles wird vergehen und nichts wird zurückkehren.“

Die anderen Jahreszeiten stellen sich neben ihn.
Erschrocken blicken sie in die traurige Landschaft.

Der Sommer wendet sich an die Hexe:
„Jetzt ist mir auch klar, was deinem Raben fehlt.
Ohne Sonnenlicht stirbt er an Einsamkeit.“

Der Frühling fügt hinzu:
„Wenn der Frühling keine Pflanzen bringt, gibt es keine Nahrung für die Tiere.
Insekten fressen Pflanzen.
Dein Rabe frisst Insekten.
Klaro?“

Der Herbst schaut in die Runde:
„Dass ich unverzichtbar bin, solltet ihr verstanden haben.“

Der Winter blickt Kamira an:
„Ohne uns wird dein Rabe sterben.
Und auch die Natur, die Tiere und die Menschen.
Die Hexen auch.“

Die Hexe wird nachdenklich.
Sie war immer so traurig und machte das Wetter verantwortlich.
Doch seit sie die Jahreszeiten eingesperrt hat, ist sie sogar noch trauriger.
Sie hat alles nur noch schlimmer gemacht.
Wie sollte sie denn ahnen, dass die Jahreszeiten so wichtig sind.
Sie beschließt, ihren Fehler wieder gut zu machen.

Schnell läuft die Hexe in ihre Hütte.
Aus dem großen Zauberbuch sucht sie den magischen Gegenspruch.
Sie will die Jahreszeiten sofort freilassen.
So kann sie ihren Raben retten.
Beschwörend hebt sie die Hände und murmelt die Zauberformel.

Es donnert und blitzt.
Ein starker Wind weht durch die Hütte.
Wild schwingt die Hexe ihren Körper.
Immer lauter wiederholt sie den Spruch.
Sie steigert sich in totale Ekstase.
Dann bricht sie auf dem Boden zusammen.

Aus dem gläsernen Kasten erheben sich vier Lichter in den Himmel.
Sonnenstrahlen durchbrechen die dunkle Wolkenschicht.
Es ertönt Vogelgezwitscher.
Die Welt erwacht wieder.

Die Hexe liegt auf dem Boden.
Sie spürt ein unangenehmes Zwicken in ihrer Wange.
Langsam öffnet sie ihre Augen.
Der Rabe hüpft neben ihr auf und ab.
Kamira verzeiht ihm sofort das unsanfte Wecken.
Liebevoll lächelt sie ihn an.
Aus dem Boden zieht Krux einen Wurm und frisst ihn hastig.

Die Hexe Kamira weiß nun, wie wichtig das Wetter für alles Leben ist.
Ab sofort erkennt sie zu jeder Jahreszeit die Schönheit des Wandels.
Sie ärgert sich nicht mehr über das Wetter.
Sie ärgert sich nicht mehr über den Raben.
Sie ist endlich glücklich.

ENDE

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