Der Baum Vorlesen

18. Nov 2022Gerhard Uebele
Rote Ahorn-Blätter. Ein Bild von HeungSoon auf Pixabay.

Der Baum

Der Mann von der Beratung sagte: Schreiben Sie doch mal etwas über die Jahreszeiten. Über Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Warum nicht? Ich schreibe gern. Ich habe Zeit.

Ich bin ein Mann mit grauem Schnurrbart. Ein Witwer und rüstiger Rentner. Ich wohne mitten in Berlin. In einer Seitenstraße. Meine Wohnung gefällt mir. Zwei Treppen muss ich gehen, dann bin ich zuhause. Vor meinem Fenster steht ein Baum. Dieser Baum ist gerade kahl, denn es ist Winter. Bei Sturm streift er die Scheibe. So wie jetzt gerade. Ich höre das Kratzen der Zweige.

Als ich einzog, war es ein kleiner Baum. Ein Baby-Baum. Mein Bart war damals schwarz. Es war eine andere Zeit. Meine Frau lebte noch. Man bezahlte noch mit Mark und Pfennig. Die Winter brachten häufig Schnee. Um die Ecke stand ein gelbes Telefonhäuschen. Wir mussten uns aus dem Fenster lehnen und nach unten schauen, um den Baum zu sehen. So klein war der Baum damals.

Der Baum ist natürlich in all den Jahren gewachsen. Und jetzt ist es schon fast ein großer Baum. Ich mag ihn sehr. Es ist ein Ahorn-Baum. Ich habe ihn wachsen sehen. All die Jahre hat er sich verändert. Ich habe ihn genau beobachtet. Er ist nicht nur immer größer geworden. Auch breiter, auch verzweigter wurde er. Wenn ich nach Hause komme, sehe ich ihn schon von weitem. Er steht still. Und immer verändert er sich. Er zeigt mir die Jahreszeiten an.

Im Frühjahr treiben grüne Blätter aus seinen Zweigen. Im Sommer spendet er Schatten, damit es in meinem Zimmer nicht zu heiß wird. Im Herbst verfärben sich seine Blätter leuchtend gelb. Im Winter steht er wie erstarrt und seine Äste tragen manchmal Schnee.

Jetzt ist es Winter. Mitte Januar. Es regnet meistens. Heute stürmt es noch dazu. Der Himmel ist grau. Die Tage sind kurz. Ehrlich gesagt kann ich gerade nicht viel berichten. Deshalb sage ich worauf ich mich freue.

Ich freue mich auf die ersten Knospen im Frühjahr. Auf die ersten Knospen vor meinem Fenster. Diesmal werde ich wieder ganz genau beobachten wie sich die Blätter entwickeln. Ist dies nicht immer wieder ganz erstaunlich? Erst die nackten, kahlen Zweige. Dann bilden sich Knubbel daran. Kleine Kapseln. Wie sie anschwellen! Wie sie aufplatzen! Wie das Grün heraus kommt! Wie sich überall Blätter bilden! Wirklich wie von Zauberhand. Erst ist da nur ein Grün-Schimmer und dann geht es ganz schnell. Bald zeigt der ganze Baum seine frischen Blätter. Manchmal turnt sogar ein Eichhörnchen auf seinen Ästen. Dann fühle ich ganz deutlich: Jetzt ist Frühling.

In den letzten Jahren bemerkte ich oft schon im Juni schlappe Blätter. Wenn es Sommer wird, werde ich den Baum wahrscheinlich wieder gießen müssen. Das ist jetzt normal geworden. Das gehört zu meinem Sommer-Gefühl. Hitze und Trockenheit im Sommer haben zugenommen. Der Boden wird immer trockener. Die Wurzeln haben es schwer, genug Feuchtigkeit zu finden. In meiner Straße sind in den letzten Jahren einige Bäume vertrocknet. Gerade die kleineren Bäume sind in Gefahr. Auch mein Baum ist noch nicht ausgewachsen. Er braucht noch Pflege und Unterstützung.

Nebenbei gesagt: Ich muss auch aufpassen, dass ich selbst mehr Wasser trinke. Das hat mein Arzt gesagt. Bei Hitze muss der Mensch viel trinken. Leider vergesse ich das allzu oft. Ich habe meine Tricks wie ich trotzdem dran denke.

Was mache ich also bei langer Sommer-Hitze? Ich verteile Gläser mit Leitungs-Wasser in meiner Wohnung. Tagsüber beim Umher-Gehen in Zimmer, Flur und Küche trinke ich sie dann. Und alle paar Tage gieße ich morgens den Baum. Er kriegt dann mindestens fünf Eimer Wasser. Ich stehe früh auf. In meiner Küche fülle ich einen Eimer Wasser und trage ihn die Treppen zur Straße hinunter. Mit vollem Eimer geht es hinunter, mit leerem Eimer hinauf. Und dies fünf mal hintereinander. Früh am Morgen wenn es noch nicht so heiß ist. Für mich ist es Frühsport. Meine alten Knochen brauchen Bewegung. Treppensteigen hält jung. Auch wenn es fast in Zeitlupe passiert, wie bei mir. Manchmal dauert es Stunden. Denn ich nehme mir meine Pausen. Ich gebe zu: anstrengend ist das schon. Für den Baum aber ist es eine Wohltat. Man sieht ihm meine Pflege sofort an. Er steht besser da als die meisten anderen Bäume in der Straße.

Im Treppenhaus begegne ich den jungen Leuten, die zur Arbeit gehen. Sie tragen ihre Arbeits-Taschen. Ich trage den Eimer. Die jungen Leute haben keine Zeit. Sie und ich reden immer nur ganz kurz miteinander. Natürlich oft über das Wetter. Und dass man jetzt sogar die Bäume gießen muss. In unserem Haus, bin ich der einzige, der dies macht. Ich werde gelobt. Ehrlich gesagt bin ich stolz auf meine Aufgabe. Manchmal denke ich: wenn meine Frau mich jetzt sehen könnte!

Ich rede manchmal mit dem Baum, wenn ich ihn gieße. Ich begrüße ihn und wünsche ihm weiterhin gutes Gedeihen. Natürlich nur stumm. Gedanken-Post. Wer weiß: vielleicht bringt menschliche Zuwendung auch Bäumen etwas. Sicher ist aber eines: ich brauche den Baum. Er ist ein Stückchen Natur vor meinem Fenster. Auch jetzt im Winter. Mit ihm fühle ich mich wohler. Durch ihn spüre ich deutlich wie sich die Jahreszeiten abwechseln.

Dies war meine Geschichte über die Jahreszeiten. Es ist eine Geschichte über mich selbst geworden. Und über meinen Lieblings-Baum. Mit Gedanken an meine Frau hab ich sie verfasst. Meine Frau kannte mich nicht als Baum-Gießer. Auch nicht als Schriftsteller am Schreibtisch. Sie würde staunen.

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