Schnee Vorlesen

02. Dez 2022Diane Henschel
Schneeflocken, Bild von Kristamonique auf Pixabay.

Schnee

Der Kuchen
Es ist noch dunkel, aber Almira ist schon wach.
Sie reibt Schokolade in eine Schüssel.
Sie rührt Eier, Zucker und Mehl schaumig.
Schicht um Schicht füllt sie eine rote Herz∙form.
Teig, Schokolade, Kirschen - Teig, Schokolade, Kirschen - und noch einmal Teig.
Sie schiebt die Herz∙form in den heißen Ofen.
Jetzt einen Stuhl vors Ofen∙fenster rücken und zuschauen, wie der Teig wächst.

Almira piekt mit einem Holz∙stäbchen in den Kuchen.
Die braune Kruste knackt leise.
Fertig.
Die ganze Küche duftet.

Später hebt sie den Kuchen auf den goldenen Teller.
Oma Theodoras Teller für besondere Tage.
Seit Almira Jan kennt, ist jeder Tag besonders.
Das will sie ihm heute sagen, damit er wieder lächelt.
In letzter Zeit schaut er immer so ernst.

Draußen weht ein eisiger Wind.
Jan wird sicher frieren.
Aber sie wird ihn so lange drücken, bis ihm warm ist.
Und einen heißen Tee bekommt er auch.
Direkt aus Oma Theodoras goldener Tee∙kanne.

Es klingelt.
Almira reißt das Fenster auf,
Da unten steht er.
„Ich werfe dir den Schlüssel runter“, ruft sie.
Aber Jan schüttelt nur den Kopf.

Irgend∙etwas ist anders.
Almira spürt es sofort.
Sie rennt die Treppe hinunter.

In der offenen Haus∙tür stehen sie sich gegenüber.
Sie in Socken, er dick eingepackt in Jacke und Schal.
Jan schaut auf den Boden und schweigt.
„Willst du nicht reinkommen?“
Jan schüttelt den Kopf.
Hinter ihm tanzen weiße Flocken durch die Luft.
Almira beginnt zu zittern.

Eine Wind∙böe fegt in den Flur und bedeckt ihre Socken mit Schnee.
Endlich schaut Jan auf.
„Ich bin jetzt mit Elli zusammen“, sagt er.
„Ich wollte es dir nicht im Handy schreiben. Elli meint, direkt sagen ist netter.“

Soll ich mich jetzt bedanken, denkt Almira, und schweigt.
Jan schaut wieder auf seine Füße.
In Almiras Kopf rennen die Worte durcheinander:
Tu was.
Jan und Elli. Elli und Jan.
Gleich geht er weg. Tu was.
Jan und Elli, Elli und Jan.

„Ich habe Kuchen gebacken“, sagt Almira.
Und im nächsten Augenblick denkt sie:
Was rede ich da für einen Mist?
Warum schreie ich ihn nicht an?

Jan versucht ein Lächeln.
Diese Lippen habe ich geküsst, denkt Almira.
Drei Wochen lang jeden Tag, und jetzt ist es vorbei.

„Nee“, sagt Jan, „ich geh lieber. Elli wartet hinten an der Ecke.“
Dann dreht er sich um und stapft davon.

Oben im Haus knallt eine Tür zu.
Almira schreckt auf.
Das Küchen∙fenster, denkt sie.
Ich habe das Küchen∙fenster aufgelassen.

Drinnen
Der Winter ist in die Küche eingezogen.
Die blaue Tisch∙decke ist mit Schnee bedeckt.
Schnee schmilzt auf der Tee∙kanne.
Schnee legt sich weiß und glitzernd auf den Kuchen.
Wie Zucker∙guss, denkt Almira.
Ein eisiger Zucker∙guss, der den Bauch frieren lässt.

Langsam geht sie zum offenen Fenster und schließt es.
Jetzt weht der Wind die Flocken gegen die Scheibe.
Mehr und mehr Schnee, bis Almira das Draußen nicht mehr sehen kann.

„Ich will es auch nicht sehen“, murmelt Almira.
„Gar nichts will ich sehen.“
„Nichts sehen und nichts hören.“
Sie gießt Tee in beide Tassen, schneidet zwei Stücke Kuchen ab und verteilt sie auf die Teller.
Dann schaut sie zu, wie der Tee langsam kalt wird.

Die goldene Tee∙kanne glänzt wie die Sonne.
„Abwarten und Tee und trinken“, hat Oma immer gesagt.
Und: „Die Zeit heilt viele Wunden“.
Aber nicht alle, denkt Almira.

Oma Theodora ist letzten Winter gestorben.
Draußen beim Schnee weg∙schaufeln ist sie tot umgekippt.
Einfach so.
„Sie war ja schon alt“, haben die Nachbarn gesagt.
Aber die Nachbarn sind auch alt und die leben noch.
Sollen die doch sterben.
Almira will ihre Oma zurück.

Almira hat Jan von Oma Theodora erzählt.
Sie hat ihm sogar ein Foto gezeigt.
„Krass“, hat er gesagt, „sieht aus wie eine echte Hexe.“

Erst ist Almira wütend auf Jan gewesen.
„Mit 90 Jahren ist das halt so“, hat sie ihn angefaucht.
Aber dann hat sie gedacht: Stimmt.
Oma Theodora hat so einen wilden Blick gehabt.
Und sie hat mit allem geredet.
Mit den Bäumen hat sie geredet und mit den Tieren, ja selbst mit ihrer Tee∙kanne.

Und jetzt sind sie beide weg.
Oma Theodora ist tot, Jan bei Elli.

Der küsst jetzt Elli, denkt Almira.
Und sofort sieht sie es vor sich:
Elli und Jan eng umschlungen im Schnee.
Jan und Elli bei Jan in der Wohnung, Arm in Arm auf dem Sofa.
Stopp.
Ich will das nicht denken, denkt Almira.
Aber sie kann nicht aufhören damit.

Jan wohnt nur zwei Straßen weiter.
Er kauft in den gleichen Läden ein wie sie.
Er geht die gleichen Wege.
Sie wird ihm begegnen.
Sie wird Jan und Elli begegnen, Hand in Hand.
Vielleicht schon morgen früh beim Bäcker.

Ich bleibe zuhause, beschließt Almira.
Ich gehe nicht mehr raus.
Nicht morgen, nicht übermorgen.
Ich lege mich ins Bett und bleibe da.
Ich mache Winter∙schlaf.

Almira stellt den Kuchen ins Eis∙fach.
Den esse ich, wenn ich wieder aufwache, denkt sie.
Das Foto von Oma Theodora und die Teekanne trägt sie ins Schlaf∙zimmer.
Dann kriecht Almira unter die dicke Daunen∙decke und rollt sich zusammen.
Sie schließt die Augen und wartet auf den Schlaf.

Winter∙schlaf
Es ist schwer, nichts zu denken.
Sobald sie es versucht, sieht sie Jan vor sich.
Sie hört ihn lachen, riecht sein Haar, fühlt die Bart∙stoppeln unter ihren Fingern.
Die Erinnerungen kommen von allen Seiten.
Almira rollt sich noch enger zusammen.

„Schlafen. Ich will schlafen“, flüstert sie wieder und wieder.

Aber es hilft nichts.
Jan und Elli, Elli und Jan.
Die Bilder in ihrem Kopf gehen nicht weg.

Mit geschlossenen Augen tastet Almira nach der Tee∙kanne.
Wunderbar vertraut fühlt sie sich an.
Als Kind hat Almira stunden∙lang die goldene Fläche gestreichelt.
Damals war sie sich sicher:
In der Tee∙kanne wohnt eine Fee.
Zusammen mit Oma Theodora hat sie sich Zauber∙sprüche ausgedacht.
Mit den Zauber∙sprüchen wollten sie die Fee heraus∙locken.
Almira muss lächeln, als sie daran denkt.

Ob ihr noch ein alter Spruch einfällt?
Reime waren es.
Die Fee trinkt Tee im Schnee, juchee.

Heute passt wohl eher:
Schnee, Schnee, mein Herz tut weh.

Mir ist alles einerlei.
Winter∙schlaf, komm herbei.

Und tatsächlich, sie schläft ein.
Almira kann sich im Traum sehen, wie sie da liegt unter der Bett∙decke.
Ihr Atem geht ruhig und sehr langsam, erstaunlich langsam.
Draußen geht die Sonne unter und sie geht wieder auf und sie geht wieder unter.
Und Almira schläft noch immer.
Und mit ihr schlafen Sieben∙schläfer, Hasel∙maus und Igel.
Nicht bei ihr im Bett natürlich.
Aber draußen vorm Haus:
In der Hecke unter dem Laub,
unter der Erde in einer winzigen, weich gepolsterten Höhle.
Auch sie haben sich zu einer warmen Kugel zusammengerollt.

Bei den Nachbarn geht das Leben weiter.
Sie essen, lachen, streiten und vertragen sich.
Sie gucken Fernsehen, gehen mit dem Hund aus, fahren zur Arbeit
und kommen hungrig heim.

Almira sieht ihren Bruder Tarek im Traum.
Er wischt Lena den Brei aus dem Gesicht.
Lena zappelt herum.
Sie will runter, denkt Almira.
Lena will durchs Zimmer krabbeln und die Welt entdecken.
Das ist so mit kleinen Kindern.

Almira kennt sich aus damit, seit sie Tante geworden ist.
Beinahe jeden Tag besucht Almira ihre Nichte.
Tarek sagt: Almira ist die weltbeste Lena-Schaukel.
Wenn Lena eine Schnute zieht und alle denken:
Gleich weint sie.
Dann nimmt Almira Lena auf den Schoß.
Sie singt und schaukelt Lena, bis sie lacht.

Im Traum krabbelt Lena zum Stuhl.
Sie zieht sich hoch, steht einen winzigen Moment und strahlt.
Dann plumpst sie wieder hin, plumpst auf den Po mit der dicken knisternden Windel.
Lena weint und Almira kann nichts tun.
Almira macht ja Winter∙schlaf.
Tarek kümmert sich, denkt Almira.
Tarek ist ja der Papa und Rosa die Mutter.
Die machen das schon.

Wie lange dauert so ein Winter∙schlaf, überlegt Almira.
Wochen? Nein, länger. 3 oder 4 Monate bis zum Frühling.
Im Frühling hat Lena bestimmt schon laufen gelernt.
Vielleicht sagt sie dann schon der ersten Worte.
Aber ich habe es nicht mitgekriegt, denkt Almira.

Und alles nur wegen Jan.
Die werden sich Sorgen machen um mich, denkt Almira.
Lena wird auf mich warten und ich komme nicht.
Und alles nur wegen Jan.

Nein, schreit Almira und wacht von ihrer eigenen Stimme auf.
Sie wirft das Feder∙bett zur Seite und setzt sich auf.
Licht fällt durch den Vorhang ins Zimmer.
Der Frühling ist da, denkt sie, und muss über sich selbst lachen.
So ein verrückter Traum.

Sie zieht den Vorhang zur Seite und schaut auf den verschneiten Rasen.
Da steht ein Schnee∙mann, klein und schief.
Der war gestern noch nicht da, denkt sie.

In der Küche steht noch das Geschirr auf dem Tisch.
Almira lässt warmes Wasser ins Becken und wäscht ab.
Immer wieder schaut sie aus dem Fenster.
Alles ist weiß.
Auf jedem Ast, auf den Autos, den Fahr∙rädern, den Müll∙tonnen:

Überall liegt Schnee.
Kein Mensch zu sehen.
Wie spät ist es eigentlich?
Schlafen die alle noch?
Ist doch schon hell.

Almira greift zum Handy.
Sonntag, 9 Uhr steht da.
Und vier Nachrichten von Tarek.

“Hallo Almira. Alles o.k.? Wo bist du?
Kann dich nicht erreichen. Melde dich.“

Was soll die Aufregung?
Wir haben uns doch gestern erst gesehen, denkt Almira.
Wieso eigentlich Sonntag?
Heute ist Samstag.
Das weiß sie genau.
Heute fängt ihr Urlaub an.
Ihr Urlaub ohne Jan.
Der Gedanke an Jan schmeckt wie Säge∙späne mit Essig.

Almira ruft bei Tarek an.
„Was für ein Tag ist heute?“ fragt sie als erstes.

„Sonntag“, sagt Tarek.

Sie hat zwei Tage geschlafen.
Ist das wirklich wahr?

Tarek, Rosa und Lena waren gestern da und haben geklingelt.
Als Almira nicht aufgemacht hat, haben sie ihr einen Schnee∙mann gebaut.

„Kann Lena schon laufen?“ fragt Almira.

„Nein,“ lacht Tarek.
„Aber sie übt tüchtig.“

Almira öffnet die Tür vom Eis∙fach und greift hinein.
„Ich habe Kuchen gebacken“, sagt sie.
„Wollt ihr vorbeikommen?“

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