Regen spüren. Tanzen!
von Nelly Neukirchen
Ich habe ein Geheimnis.
Keiner weiß es. Nur ich. Und Du.
Weil ich es Dir jetzt erzähle:
Ich kann Gedanken lesen.
Ich kann hören, was andere Menschen denken.
Komisch, oder? Ist aber so.
Du denkst jetzt: Die spinnt!
Aber wirklich.
Manchmal, wenn ich draußen bin,
ist mein Kopf ganz voll.
Voller Gedanken von anderen Menschen.
Die Frau an der Ampel denkt:
Habe ich den Herd ausgemacht? Und Tomaten muss ich kaufen.
Henry, der meinen Rollstuhl schiebt, denkt:
Was soll ich bloß nach meinem sozialen Jahr machen?
Reisen? Aber ich hab kein Geld.
Das Kind, das uns entgegen kommt, denkt:
Wieso hat die Frau da Räder unter ihrem Hintern?
Oft denken die Leute einfach nur blödes Zeug.
Manche singen in ihrem Kopf.
Manche zählen ihre Schritte.
Ganz viele beschimpfen jemanden in Gedanken.
Und ganz viele beschimpfen sich selbst:
Ich bin hässlich! Ich bin dumm! Ich bin zu dick!
Mir tun diese Menschen leid.
Und gleichzeitig tu ich mir selbst leid.
Weil ich mir das ganze Zeug anhören muss.
In meinem Zimmer ist es still.
Das mag ich.
Ich mag es, wenn es still ist.
Die vielen Stimmen machen nämlich müde.
Ich könnte gut darauf verzichten, all die Gedanken zu hören.
Und manchmal höre ich auch Sachen, die ich lieber nicht hören würde.
Manchmal denken die Pfleger:
Ich hab keine Lust mehr. Schon wieder Überstunden!
Oder manchmal höre ich die Leute denken:
Oh je, die Arme, die tut mir so leid.
Ich brauche aber keinem leid zu tun.
Mir geht’s gut.
Solange ich in meinem Zimmer sein kann.
Oder höchstens noch im Gruppen-Raum.
Oder aller-höchstens in unserer Straße.
Einkaufen mit Henry.
Aber nie, nie, nie allein.
Ich habe Angst allein draußen.
Ich glaube, alle Menschen sind gemein.
Und keiner würde mir helfen.
Das weiß ich.
Auch wenn ich noch nie allein unterwegs war.
Henry denkt immer, ich soll selbständiger werden.
Er macht sich viele Gedanken über mich.
Aber er sagt kaum etwas.
Nur manchmal fragt er mich:
Susie, willst Du es nicht mal alleine versuchen?
Nur bis zum Drogerie-Markt?
Aber ich schüttle immer den Kopf.
Heute hat er wieder gefragt.
Ich habe wieder den Kopf geschüttelt.
Also kommt er mit zum Drogerie-Markt.
Ich will Shampoo kaufen. Und Lippen-Stift.
Ich liebe knallroten Lippen-Stift!
Jetzt stehe ich vor dem Regal und kann mich nicht entscheiden.
Henry steht ein paar Meter neben mir.
Er denkt:
Welches Deo soll ich nehmen?
Das da stinkt. Das da riecht ganz ok.
Und so weiter.
Henrys Gedanken sind oft nicht besonders interessant.
Er blubbert oft vor sich hin, in seinem Kopf.
Aber ich mag dieses Geblubber.
Vor allem, wenn wir draußen unterwegs sind.
Das beruhigt mich.
Plötzlich ist Stille.
Ich kann Henry nicht mehr hören.
Ich schaue mich um.
Ich kann Henry nirgends sehen!
Henry ist weg!
Oh Gott! Ich bin ganz allein!
In dem großen Laden! Mit all den fremden Menschen!
Wieso ist Henry einfach weg?
Was soll ich jetzt machen?
Angst. Angst! Hilfe!
Ich kann kaum atmen.
Panik kriecht mir in die Arme.
Ich mache den Mund auf und will schreien.
Aber es kommt kein Ton heraus.
„Ist alles OK?“
Ein Gesicht beugt sich über mich.
Ich erschrecke mich furchtbar.
„Geh weg!“, will ich schreien.
Aber ich kann nichts sagen.
Wahrscheinlich würde er mich eh nicht verstehen.
Oft verstehen die Leute mich nicht, wenn ich etwas sage.
Henry versteht mich immer.
Henry! Wo bist Du?
Du kannst mich doch nicht einfach hier allein lassen!
Das Gesicht ist immer noch da.
Ich höre die Gedanken, die dazu gehören:
Oh je, sie sieht völlig durcheinander aus.
Sie weint ja!
Ich muss ihr helfen!
Ich glaube, sie hat furchtbare Angst.
„Kann ich Dir helfen?“, fragt der Kopf.
Ich schniefe.
Ich nicke.
Ich habe keine Wahl.
Und die Stimme und die Gedanken hören sich nett an.
Ich halte dem Mann meinen Arm hin.
Darum liegt ein Armband mit meinem Namen und meiner Adresse.
Er nickt und denkt:
Oh, alles klar, sie wohnt im Wohnheim.
Wie ist sie hier bloß so allein hingeraten?
Dann sagt er:
„Keine Sorge! Ich bring Dich heim.“
Ich nicke wieder.
Und kann nicht glauben, dass er mir einfach so hilft.
Als wir aus der Tür des Drogerie-Markts kommen,
sehen wir schon die dunklen Wolken.
Oh je, es wird gleich regnen, denkt mein Retter,
am besten kürzen wir durch den Park ab.
Laut sagt er:
„Ich heiße übrigens Benno.
Schön, Dich kennenzulernen, Susie.“
Ich bekomme schon wieder Angst.
Der Park! Peter aus meiner Wohn-Gruppe ist dort
zusammen-geschlagen worden.
Ich will nicht in den Park!
Und ich hasse Regen!
Durch meine Panik höre ich Bennos Gedanken:
Oh je, jetzt fängt sie an, sich hin und her zu wiegen.
Was mache ich falsch?
Bin ich eigentlich bescheuert?
Was mache ich hier mit der fremden, behinderten Frau?
Was, wenn sie ausrastet?
Ich hab keine Ahnung, was ich mit ihr machen soll.
Aber sie sieht so nett aus.
Ich würde sie gerne kennen lernen.
Aber jetzt zittert sie auch noch.
Was soll ich bloß machen?
Ich merke, dass Benno genau so viel Angst hat wie ich.
Ich wusste gar nicht, dass das geht!
Wir stehen immer noch vor der Tür des Drogerie-Markts.
Ich höre auf zu zittern.
Und lächle Benno an.
Erleichtert lächelt er zurück.
„OK, gehen wir!“, sage ich.
Und Benno versteht mich ohne Probleme.
„Soll ich Dich schieben?“, fragt er.
Ich nicke.
Ich krieg das hin, denke ich.
OK, das kriege ich hin, höre ich Benno im gleichen Moment denken.
Wir gehen die Straße runter Richtung Park.
Die Luft duftet nach nassem Asphalt.
Es regnet immer stärker.
Benno beeilt sich.
Aber es ist nicht leicht für ihn.
Oh Mann, Rollstuhl schieben ist schwerer als es aussieht!
kann ich Bennos Gedanken hören.
Ich höre auch, wie er schnauft.
Jetzt sind wir im Park.
Und ich kämpfe wieder gegen meine Panik.
Ich bin schon ziemlich nass.
Ich hasse Regen wirklich!
„Komm, wir stellen uns hier unter“,
sagt Benno.
Unterstellen? Unter diesen komischen Baum?
Im Regen? Im Park?
Mit einem Menschen, den ich gar nicht kenne?
Ich kann mein Herz spüren.
Es schlägt vor Angst wie verrückt.
Ich krampfe meine Hände zusammen.
Und ich habe wieder angefangen zu zittern.
Meine Zähne schlagen aufeinander.
Benno schiebt mich unter einen Baum,
dessen lange Zweige fast bis zum Boden hängen.
Ich muss die Arme irgendwie beruhigen.
Sie sieht aus wie ein ängstliches Häschen,
höre ich Benno denken.
Ich schaue ihn an.
Er lächelt mir zu.
Das beruhigt mich tatsächlich.
Und eigentlich ist es sehr schön hier unter dem Baum.
Die Blätter sind schmal und wunderschön hellgrün.
Auch das Licht unter dem Baum ist hellgrün.
Hier ist es trocken.
Draußen prasselt es.
Hier unter dem Baum ist es fast still.
„Das ist eine Trauer-Weide“, sagt Benno.
„Sie beschützt uns“.
Ja, so fühlt es sich an.
Ob sie sich im Heim Sorgen um mich machen?
Wenn Henry sich Sorgen macht,
geschieht es ihm recht.
Ich bin so sauer auf ihn!
Benno denkt:
Hoffentlich hört es bald auf zu regnen.
Ich muss noch so viel erledigen!
Plötzlich raschelt es.
Die Zweige werden auseinander geschoben.
Zwei Menschen kommen in unsere Zweig-Höhle.
Sie schütteln sich wie nasse Hunde.
„Hallo! Das ist ein Regen! Dürfen wir uns zu Euch stellen?“
Na prima. Noch mehr fremde Menschen!
Werden sie uns angreifen? Uns schlagen? Uns ausrauben?
Ich lausche auf Bennos Gedanken.
Aber von Angst keine Spur.
Er denkt: „Oh, die sehen cool aus!
Und sie haben Musik-Instrumente dabei!
Straßen-Musikanten!“
Ich schaue mir die beiden genauer an.
Stimmt! Ein Mann und eine Frau – beide ganz bunt angezogen.
Sie hat eine Zieh-Harmonika dabei.
Er trägt ein Saxophon.
Und sie sehen beide sehr freundlich und lustig aus.
Der Regen prasselt auf unser Blätterdach.
Die feuchte Erde duftet.
Die beiden schauen sich an.
Spielen wir? denkt sie.
Ja! denkt er.
Sie verstehen sich ohne Worte. Das ist schön.
Ich habe schon davon gehört. Aber es noch nie erlebt.
Die beiden packen ihre Instrumente aus.
Und dann legen sie los!
In unserem hellgrünen Licht perlen die Töne!
Die Musik hüllt mich ein.
Ich vergesse den Park und den Regen und meine Angst.
Ich liebe Musik!
Mein Körper wird ganz leicht.
Ich spüre jeden einzelnen Ton.
Und ein paar Regen-Tropfen,
die sich durch die Blätter schmuggeln.
Ich werfe den Kopf in den Nacken
Und beginne zu tanzen.
Auch Benno neben mir tanzt.
Er fasst meine Hände.
Wir schwingen hin und her,
wir lachen, wir singen,
wir trinken das Leben!
Mehr Leute kommen neugierig unter unsere Trauer-Weide.
Es macht mir nichts aus.
Ich fühle mich sicher.
Vielleicht macht das die Musik
oder Benno
oder der Baum.
Ich höre keine Gedanken mehr,
nur noch Freude.
Ich denke:
Vielleicht sind doch nicht alle Menschen gemein.
Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, hier draußen.
Vielleicht hatte Henry recht.
Irgendwann hört es auf zu regnen.
Benno bringt mich nach Hause.
Dort haben sich alle furchtbare Sorgen um mich gemacht.
Henry weint fast, als er mich sieht.
„Ich wollte Dich doch nur zwei Minuten allein lassen! Als Test.
Und dann warst du plötzlich weg.
Es tut mir so leid, Susie, es tut mir so leid“,
sagt er immer wieder.
Und in seinen Gedanken sehe ich, dass er es auch so meint.
Henry schüttelt Benno wie verrückt die Hand
und bedankt sich ungefähr zehnmal.
Und dann nochmal. Und nochmal.
Ich höre Benno denken:
Die sind alle ein bisschen verrückt hier.
Aber Susie möchte ich nochmal besuchen.
Ich mag sie.
Ich hatte Spaß mit ihr beim Tanzen im Regen!
Als er sich verabschiedet, fragt er:
„Bis bald?“
Ich nicke.
Hoffentlich regnet es, wenn wir uns das nächste Mal sehen.