Mutig-Sein braucht man im Leben
„Du musst
dich beschweren, Lisa! Das geht so nicht. Das ist eine Frechheit, wenn ihr
ständig den Rauch einatmen müsst. Noch dazu beim Essen und Trinken!“
Meine Schwester Melli ist empört. Wenn sie etwas falsch oder ungerecht findet,
kann sie sich ganz schön aufregen.
Sonst ist Melli sehr lieb und freundlich. Meistens ist sie gut gelaunt. Wir
lachen viel zusammen. Ich bin froh, dass ich sie als große Schwester habe.
Ich habe ihr
erzählt, dass die Raucher so wenig Rücksicht auf uns nehmen. Das ist an meinem
Arbeitsplatz, in einem Hotel.
Dort arbeite ich seit zwei Jahren. Die Arbeit macht mir Spaß. Ich muss die
schmutzige Wäsche in den Keller in die Wäscherei bringen oder die saubere
Wäsche von dort holen. Manchmal darf ich beim Frühstücksbuffet helfen. Das
mache ich am liebsten. Die meisten Kollegen finde ich nett.
Im Hotel gibt es einen Pausenraum. In der Pause können wir dort essen und
trinken. Durch eine Schiebetür kommt man von diesem Raum in einen kleineren
Raum. Im kleinen Raum darf man rauchen.
Meistens sitzen dort Raucher, wenn ich Pause mache und etwas esse. Dann zieht
der ganze Rauch zu mir herüber. Das mag ich nicht.
Eigentlich müssen die Raucher die Schiebetür zumachen. Aber sie lassen die Tür meistens
offen. Schon oft bin ich selbst aufgestanden und habe die Tür zugemacht.
Aber seit zwei Wochen ist die Schiebetür kaputt. Man kann sie nicht mehr
schließen. Manche Raucher stellen sich jetzt ans offene Fenster und versuchen,
den Rauch hinauszublasen. Andere haben dazu keine Lust. Sie sagen, am Fenster
ist es zu kalt. Das finde ich rücksichtslos. Denn dann schmeckt mein ganzes
Essen nach Rauch. Und auch meine Haare riechen dann schlecht.
Melli hat
gesagt, dass ich mich beschweren soll. Ich kann ja noch andere Nichtraucher
fragen, ob sie das auch stört. Und dann soll ich zur Chefin gehen. Ich soll ihr
sagen: Man muss die Tür reparieren. Und dann muss man sie immer zumachen.
Ich habe mich noch nicht getraut, zur Chefin zu gehen. Vielleicht sind die
Raucher dann sauer auf mich? Und die Chefin ist selbst Raucherin. Sie stellt
sich aber immer ans Fenster, wenn sie sich eine Zigarette anzündet.
Ich habe mit zwei Kolleginnen gesprochen, die ich gut kenne. Sie finden den
Rauch genauso blöd. Aber sie wollen auch nichts sagen.
Melli ist anders. Sie sagt, was sie denkt. Sie sagt, man darf
nicht feige sein. Wenn etwas falsch ist, muss man irgendwas dagegen tun. Melli
ist es meistens egal, was andere Leute über sie denken. Sie geht sogar manchmal
auf Demos. Mit ihren Kollegen von der Uni. Unsere Eltern finden das nicht so
gut. Aber Melli ist 22. Sie kann machen, was sie will.
Ich bin 19, also auch erwachsen. Aber ich bin nicht so mutig wie Melli.
Heute
besuchen Melli und ich unsere Oma im Seniorenheim.
Oma freut sich immer, uns zu sehen. Wenn das Wetter schön ist, geht sie am
liebsten mit uns im Garten spazieren. Sie braucht dazu ihren Rollator. Wir
gehen links und rechts von ihr und passen gut auf sie auf.
Auch Oma hatte ein Problem. Aber mit Mellis Hilfe hat sie eine Lösung gefunden. Als wir im Garten sind, sagt Oma: „Also, Kinder, ich bin so froh: Mit dem Abendessen klappt es jetzt richtig gut. Ihr habt mir so gut geholfen.“
Hier im Seniorenheim
gibt es nämlich sehr früh Abendbrot. Zwischen fünf und viertel vor sechs muss man
zum Essen im Speisesaal sein. Danach wird alles weggeräumt.
Für Oma war das immer zu früh. Am Nachmittag kann man nämlich Kaffee trinken
und Kuchen essen. Oma isst sehr gern Kuchen. Danach ist sie aber satt und
möchte nicht um fünf schon wieder essen. Sie hat einmal ihre Lieblingspflegerin
gefragt, ob sie sich das Essen aufs Zimmer holen darf. Dann könnte sie später
zu Abend essen. Das Essen kühlt nicht aus, weil es kaltes Abendbrot gibt. Die
Pflegerin hatte nichts dagegen. Sie hat sogar angeboten, Oma das Essen aufs
Zimmer zu bringen.
Doch kurz danach hat Schwester Ulla gesagt: Das geht nicht. Schwester Ulla organisiert das Essen. Sie hat viele Gründe gefunden, warum Oma sich das Essen nicht aufs Zimmer holen darf: Was ist, wenn ihr die Tasse auf den Boden fällt und zerbricht? Wenn sie auf dem Weg mit dem Rollator den heißen Tee verschüttet und sich verbrennt? Die Pflegerinnen können das auch nicht für sie machen, das kostet zu viel Zeit. Außerdem: Wenn das dann alle so machen wollen… Das gibt nur Chaos. Und so weiter.
Oma war enttäuscht. Ich habe das auch nicht richtig gefunden. Melli hat sich aufgeregt: „So was Dummes. Schwester Ulla soll sich nicht so anstellen. Da muss es doch eine Lösung geben!“
Und Melli hat die Lösung gefunden:
Oma bekommt ihr
eigenes Geschirr aufs Zimmer und spült es dort selbst in ihrem Waschbecken.
Dann kann ihr auf dem Weg nichts hinunterfallen und zerbrechen. Normalerweise
passiert das auch nicht, weil Oma die Sachen auf dem Rollator abstellen kann. Sie
geht auch sehr vorsichtig. Oma kann sich dann Brot, Käse und Tomaten auf einem
kleinen Kunststofftablett holen.
Den Tee nimmt sie erst einmal nicht mit. Eine Thermoskanne mit Tee bleibt auch
nach der Essenszeit im Speisesaal stehen. Wenn Oma in ihrem Zimmer gegessen
hat, geht sie noch einmal in den Speisesaal. Sie nimmt sich dort eine saubere
Tasse und schenkt sich Tee ein. Der ist inzwischen lauwarm und man kann ihn
gleich trinken. Dann geht Oma zurück auf ihr Zimmer. Die eine benutzte Tasse
und die Thermoskanne kann sie stehenlassen. Das Personal spült sie am nächsten
Tag zusammen mit dem Frühstücksgeschirr. Das ist schnell gemacht.
Das war Mellis Idee. Oma, Melli und ich waren zusammen bei Schwester Ulla und haben ihr diesen Vorschlag gemacht. Schwester Ulla hat etwas von „vielen Umständen“ gemurmelt. Ich habe gedacht: Schwester Ulla sagt bestimmt ‚nein‘. Melli hat sich aber nicht abschrecken lassen. Sie hat weiter gesprochen. Sie war sehr höflich und freundlich und hat zu Schwester Ulla gesagt: ‚Ich weiß, dass Sie sehr viel Arbeit haben. Danke, dass Sie sich so gut um alles kümmern.‘ Melli hat aber nicht lockergelassen. Sie hat unsere Bitte noch einmal wiederholt.
Schwester Ulla hat dann gesagt: „Na, von mir aus versuchen
wir es. Aber wenn es Probleme gibt, müssen Sie wieder mit allen anderen
zusammen im Speisesaal essen.“
Das ist inzwischen schon ein paar Wochen her. Es hat in der ganzen Zeit keine
Probleme gegeben. Oma ist glücklich. Melli und ich auch.
Nach dem Besuch bei Oma sagt Melli zu mir: „Siehst du, man muss sich manchmal etwas trauen. Man soll trotzdem freundlich bleiben. Man kann Verständnis für die anderen haben. Aber man darf sich nicht so schnell einschüchtern lassen. Wenn man etwas möchte oder nicht möchte, wenn man etwas braucht, wenn einen etwas stört: Dann muss man das sagen. Meistens macht das kein anderer für dich. Du musst selbst den Mut haben.“
Dann haben
wir noch einmal über das Raucherzimmer und die kaputte Schiebetür im Hotel
gesprochen.
Melli hat gesagt: „Sprich mit allen Nichtrauchern. Oder mit den meisten. Viele von
ihnen stört der Rauch bestimmt auch. Dann können einige von euch zusammen zur
Chefin gehen. Vielleicht vier oder fünf Leute. Ihr wollt doch nichts
Unverschämtes. Ihr wollt doch nur, dass die Raucher in einem geschlossenen Raum
sind. So sind auch die Bestimmungen. Das weiß deine Chefin. Und wenn das
Gespräch nicht reicht, könnt ihr alle unterschreiben. Dann kannst du den Zettel
mit den Unterschriften deiner Chefin geben. Sie muss dann etwas machen. Wenn du willst, komme ich zur Unterstützung mit.“
Melli hat
wirklich immer gute Ideen. Und sie schafft es, anderen Mut zu machen.
Ich nehme mir das jetzt fest vor: Ich frage die Kollegen, wie sie das mit dem
Rauch finden. Und ob jemand mitkommt zur Chefin. Die ist doch eigentlich ganz
nett. Wenn es nötig ist, sammeln wir noch Unterschriften.
Und ich kann das auch ohne Melli schaffen. Ich kann mir ja vielleicht
vorstellen, dass sie dabei ist. Das macht es mir dann leichter.
Und so kann ich auch „Mutig-Sein“ üben. Denn das braucht man im Leben. Und dann kann ich stolz auf mich sein. Und Melli auch.