Meine Schwester Vorlesen

09. Dez 2022Slavica Klimkowsky
Weihnachtssterne. Bild von Kranich17 auf Pixabay.

Meine Schwester

Ich habe eine kleine Schwester bekommen.
Und eine Puppe.
Am selben Tag.
Meine Eltern nannten sie Nina.
„Du musst der Puppe einen Namen geben“, sagte Mama.
Ich wollte keine Puppe.
Und ich wollte ihr auch keinen Namen geben.
Ich war fünf Jahre alt.
Ich wollte mit LEGO spielen.
Aus LEGO Roboter bauen.

Meine Schwester war klein und süß.
„So ein schönes Baby“, sagten alle.
Mama und Papa sagten das.
Tante und Onkel sagten das.
Die andere Tante sagte das.
Alle Nachbarn sagten das auch.
Mama und Papa waren glücklich.

„Klara, Du warst auch ein schönes Baby“, sagte Oma zu mir.
Oma streichelte meine Wange und gab mir einen Kuss.
„Und jetzt bist du groß und bald ein Schul·kind“, sagte Oma.
Und streichelte meine andere Wange und gab mir einen Kuss.

Ich wollte Nina im Arm halten.
Ich wollte ihr Gesicht streicheln.
Ich wollte Nina einen Kuss geben.
Ich durfte nicht.

„Nina ist unser Sonnenschwein“, sagte Mama.
„Nina ist ein Gute-Laune-Baby“, sagte Papa.
„Warum ist Nina ein Gute-Laune-Baby?“, fragte ich.
„Weil sie in der Nacht schläft“, sagte Papa.
„Nina schreit nicht, sie lässt uns schlafen“, sagte Mama.

Sie reden oft davon, wie schlimm ich war.
Jede Nacht habe ich lange geschrien.
Sie konnten wegen mir nicht schlafen.
Mussten mich im Arm halten.
Und mit mir herumlaufen.
Ein ganzes Jahr ging das so.
Erst dann habe ich weniger geschrien.

Nina war immer lieb.
Am Tag und in der Nacht.
Sie lag ruhig in ihrem Bettchen.
Manchmal lächelte sie.
Ich durfte sie nur angucken.

Ich war viel bei meiner Oma.
Sie wohnte ganz in der Nähe.
Oma und ich sind im Park spazieren gegangen.
Manchmal in den Zoo.
Und wenn es geregnet hat ins Museum.
Oder ins Kino.

Dann kam der Mai und mein Geburtstag.
Es gab eine große Torte.
Darauf waren ganz viele Marienkäfer aus Zucker.
Und eine 6 aus Schokolade.
Meine Oma hat die Torte gebacken.
Meine Freunde aus der Vorschule waren gekommen.
Meine beiden Tanten haben viele Geschenke gebracht.
Das sind die Schwestern von meiner Mama.

Die Tanten durften Nina halten.
„Ist mit Nina alles in Ordnung?“, sagte eine Tante.
„Aber, ja! Warum?“, sagte meine Mama.
„Sie ist so ruhig“, sagte die Tante.
„Nina ist eben ein zufriedenes Baby“, sagte meine Mama.

Einen Monat später war der 1. Geburtstag von Nina.
Es gab eine große Torte.
Oma hat sie gebacken.
Ich habe ihr dabei geholfen.
Ich habe viele bunte Blumen darauf verteilt.
Und Schmetterlingen aus Ess-Papier.
Die beiden Tanten haben wieder viele Geschenke gebracht.
Spielzeuge und Puppen.
Nina hat es nicht in die Hand genommen.
Nicht damit gespielt.
Die Tanten haben Nina wieder im Arm gehalten.
„Läuft Nina schon? Wie viele Schritte?“, fragte eine der Tanten.
„Kann sie stehen?“, fragte die andere Tante.
„Krabbelt sie?“
„Es ist alles in Ordnung“, sagte Mama.
„Manche Babys brauchen ein bisschen mehr Zeit“, sagte Papa.

Irgendwann merkten auch meine Eltern,
Dass mit Nina etwas nicht stimmte.
Sie konnte nicht krabbeln, nicht laufen, nicht sprechen.
Aber sie war doch immer gesund.
Hatte guten Appetit.

Mama hat geweint.
Papa war traurig.
Sie haben Nina zu allen möglichen Ärzten gebracht.
Nina war ein Sorgen-Kind.
Und kein Sonnenschein mehr für Mama und Papa.
Nur Oma und ich sagten weiter zu Nina:
„Du bist unser Sonnenschein.“

Ich ging zur Schule.
Nach der Schule war ich im Hort.
Dort holte mich meine Oma ab.
Mein Papa war arbeiten.
Meine Mama brachte Nina zu den Ärzten.
Zur Kranken-Gymnastik.
Zu Ergo-Therapie.
„Da spielt sie mit Bau-Klötzen“, sagte Mama.
Mit neun Jahren konnte Nina ein paar Schritte laufen.
Und sie brauchte keine Windel mehr.
Sie sagte, wenn sie auf die Toilette musste.

Oma hat mich zum Sport gebracht.
Und zum Musikunterricht.
Oma ist mit mir zum Sommerfest in der Schule gegangen.
Und zu jedem Eltern · abend.
Und wir sind zusammen in den Urlaub gefahren.
Immer in einen anderen Kur-Ort.
Kur-Orte sind kleine Städte.
Die fangen immer mit Bad an.
Bad Steben, Bad Kissingen, Bad Saarow, Bad Harzburg.
Da waren viele alte Menschen unterwegs.
Mich hat das nicht gestört.
Weil überall ein Schwimmbad war.
Und ich hatte spannende Bücher dabei.
Oma hatte auch Bücher dabei.
Sie hat Krimis gelesen.
Und ich Abenteuer-Romane.

Dann bin ich aufs Gymnasium gekommen.
Und ganz zu meiner Oma gezogen.
Meine Eltern hatten nichts dagegen.
Mein Zimmer war nicht mehr mein Zimmer.
Da waren Geräte, mit denen Nina üben musste.
Ein zweiter Rollstuhl war auch da.
Und viele andere Dinge.

Jeden Sonntag hat Oma für alle gekocht.
Mama, Papa und Nina sind zum Essen gekommen.
Oma hat auch einen Apfelkuchen gebacken.
Den hat Nina so gern gegessen.
Jede Woche bin ich 2 Mal zu meinen Eltern gegangen.
Ich wollte mit Nina im Rollstuhl spazieren gehen.
Nina wollte das auch.
Unsere Mama erlaubte es nicht.
Sie war immer dabei.
Mama hatte Angst, dass etwas passiert.
Was? Das hat sie uns nie gesagt.

Dann habe ich einen Kurs gemacht.
Da habe ich viel über Rollstühle gelernt.
Und wie man jemanden vom Bett in den Rollstuhl bekommt.
Das haben wir im Kurs geübt.
Ich habe eine Frau im Rollstuhl Treppe hoch und Treppe runter geschoben.
Stufe für Stufe.
Und vom Gehweg auf die Straße und wieder auf den Gehweg.
geschoben.
Dann habe ich im Rollstuhl gesessen.
Und die Frau aus dem Kurs hat mich geschoben.
Ich habe große Angst gehabt.
Besonders bei den Treppen.
Am Ende habe ich eine Urkunde bekommen.

Trotzdem durfte ich mit Nina im Rollstuhl nicht spazieren gehen.
Nina konnte ein paar Schritte laufen.
Sie war langsam und unsicher.
Aber sie hatte einen starken Willen.
Sie wollte es schaffen.
Und sie übte fleißig.
Zu Hause und in der Schule.
Besonders in dem langen Gang in ihrer Schule.

Und sie wollte Tanzen lernen.
Hatte immer wieder versucht sich zu drehen.
Und jedes Mal ist sie hingefallen.

In der 11. Klasse war mein Auslandsjahr in Amerika.
Dort hat es mir gut gefallen.
Ich war bei einer Familie, die so anders war als unsere.
Die Eltern waren etwas älter als meine Eltern.
Sie hatten 4 Kinder.
Drei Töchter und einen Sohn.
Der Sohn saß im Rollstuhl.
Er hatte mit 7 Jahren einen Unfall.
Auf dem Weg zur Schule hat ihn ein Auto erfasst.
Die amerikanische Familie hat viel gelacht.
Und ständig wurde etwas gefeiert.
Nicht nur Geburtstage, so wie bei uns.
Alle waren so fröhlich.
Die Eltern haben getanzt und gelacht.
Meine Eltern haben nie gelacht.
Sie waren immer nur traurig.
Alles war so schwer.

Oma hat mir jeden Tag eine kurze E-Mail geschrieben.
Sie hat einen Computer-Kurs für Senioren gemacht.
Senioren sind alte Menschen.
Dabei ist Oma gar nicht so alt.
Jeden Abend hat sie mir von Nina geschrieben.
Wie fleißig sie ist und dass sie viel übt:
Gehen, Sprechen und Tanzen.

Mein Jahr in Amerika war schnell vergangen.
Und ich war wieder zu Hause bei meiner Oma.
Sie hat sich sehr gefreut.
Nina auch.
„Klara ist da. Schön. Klara. Klara.“, sagte Nina.
Sie hatte Tränen in den Augen.
„Du bist wieder da“, sagte Papa.
„Du hättest öfter schreiben können“, sagte Mama.
Ihr hättet mir auch schreiben können, dachte ich.
Sagte es aber nicht.

Nina war 13 Jahre alt.
Und sie konnte allein in die Bäckerei gehen.
Brot und Brötchen kaufen.
Die Bäckerei war im Nebenhaus.
Und Nina machte einen Tanz-Kurs.
Sie konnte sich 2 Mal drehen.
Und war schon lange nicht mehr hingefallen.

Ich wollte eine gute Abitur-Note haben.
Und in Amerika studieren.
Ich habe viel gelernt.
Hatte wenig Zeit für Nina.
Das tat mir sehr leid.
Nach dem Abitur bin ich gleich nach Amerika.
Habe dort den ganzen Sommer gearbeitet.
Im Herbst habe ich angefangen zu studieren.
Mathematik.

Jedes Jahr in den Sommer-Ferien war ich bei meiner Familie.
Immer nur ein paar Tage.
Ich wollte mit Freunden durch Europa reisen.
Im Sommer nach dem Studium war ich nicht zu Hause.
Ich bin durch Südamerika gereist.
Danach habe ich eine Arbeit an der Uni bekommen.
Die Arbeit machte mir großen Spaß.

Jeden Abend kam eine kurze E-Mail von meiner Oma.
Nina war dabei lesen und schreiben zu lernen.
Nina fehlte mir.
Meine Familie fehlte mir.
Ich habe so viel an Oma gedacht.
War das Heimweh?
Ich wollte alle so gern wieder · sehen.
Und umarmen.
Und zu Weihnachten überraschen.

Eine Woche vor Weihnachten ging mein Flug.
Direkt vom Flughafen bin ich zur Oma gefahren.
Es war kalt.
Überall lag Schnee.
Oma war zu Hause.
„Klara, schön, dass du da bist“, sagte Oma und umarmte mich.
„Willst du etwas essen und eine Tasse Tee?“, fragte Oma.
„Später, ich gehe erst zu Nina“, sagte ich.
„Nina ist in der Schule. Sie spielt Theater“, sagte Oma.
„Wenn du dich beeilst, dann bist du noch rechtzeitig dort.“
Draußen war es glatt.
Ich konnte nicht so schnell laufen.
Ich bin in der Schule angekommen.
Bin zum großen Saal gegangen, habe die Tür aufgemacht.
Im Saal war es dunkel, nur die Bühne war beleuchtet.
Ich setzte mich auf einen Stuhl neben der Tür.
Vor der Bühne stand Nina.
Und neben ihr ein Junge.
Der Junge war groß und dick.
Er hatte eine schwarze Hose und einen roten Pullover an.
Er sah aus wie der Weihnachts·mann.
Ein junger Weihnachts·mann ohne Bart und ohne Mütze.
Nina hielt seine Hand.
Sie trug ein langes weißes Kleid und große, weiße Flügel am Rücken.
Dann führte sie den jungen Weihnachts·mann auf die Bühne.
Er setzte sich auf den Boden neben einem roten Sack.
„Das ist der Weihnachts·mann. Er bringt Geschenke“, sagte Nina laut.
„Er kann nicht sprechen, aber ich bin der Weihnachts·engel und ich weiß, was Weihnachts·mann sagen will.“
„Ihr könnt dem Weihnachts·mann etwas sagen oder ihn etwas fragen“, sagte Nina.
„Dann bekommt ihr ein Geschenk.“
„Das ist Benni und er spricht nicht“, sagte ein Junge.
Der Junge ging zur Bühne.
„Genau und du bekommst dein Geschenk“, sagte Nina.
Sie holte ein Päckchen aus dem Sack und gab es dem Jungen.
Es gab viele Fragen an den Weihnachts·mann.

Nina hatte auf jede Frage eine Antwort.
Und alle Päckchen waren verteilt.
Dann konnte man etwas sagen oder fragen,
aber es gab keine Geschenke mehr.
„Weihnachts·mann, magst du Weihnachten?“, fragte ein Mann
„Ja, der Weihnachts·mann mag Weihnachten sehr“, sagte Nina.
„Warum?“, fragte eine Frau.
„Weil er nach Weihnachten nicht mehr arbeiten muss“, sagte Nina ernst.
Ein paar Menschen lachten.
„Und du, lieber Weihnachts·engel, magst du Weihnachten?“, fragte eine Frau.

„Manchmal. Früher“, sagte Nina.
„Und jetzt nicht mehr?“
„Nein“, sagte Nina.
„Aber du bist doch der Weihnachts·engel“, sagte eine andere Frau.
„Das ist Theater“, sagte Nina ernst.
„In diesem Jahr haben wir Schnee. Weiße Weihnachten ist doch schön“, sagte eine ältere Frau.
Nina stand mitten auf der Bühne und sagte:
„Nein, auch weiße Weihnachten ist nicht schön, ohne meine Schwester.“

Ich trocknete meine Tränen und dachte:
Für mich auch nicht ohne dich.
Mein Weihnachts·engel.
Meine Schwester.

20 Personen gefällt das

7Kommentare

  • Till
    09.12.2022 20:42 Uhr

    Sehr berührend

  • Nadine B.
    09.12.2022 20:44 Uhr

    Eine wunderbare Geschichte über Familie und Weihnachten. Danke!

  • Frosch Undweiter
    09.12.2022 20:58 Uhr

    Eine wunderschöne und rührende Geschichte, die sehr zum Nachdenken anregt.

  • Alexander
    09.12.2022 23:01 Uhr

    So eine schöne Geschichte. Toll!

  • Isabella
    10.12.2022 12:21 Uhr

    Eine schöne, berührende Geschichte.

  • Almut Anders
    19.12.2022 18:56 Uhr

    Das ist eine schöne Schwester-Geschichte. :)

  • Sarina
    14.01.2023 21:43 Uhr

    So schön!!!

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