Meine Schwester
Ich
habe eine kleine Schwester bekommen.
Und
eine Puppe.
Am
selben Tag.
Meine
Eltern nannten sie Nina.
„Du
musst der Puppe einen Namen geben“, sagte Mama.
Ich
wollte keine Puppe.
Und
ich wollte ihr auch keinen Namen geben.
Ich
war fünf Jahre alt.
Ich
wollte mit LEGO spielen.
Aus
LEGO Roboter bauen.
Meine
Schwester war klein und süß.
„So
ein schönes Baby“, sagten alle.
Mama
und Papa sagten das.
Tante
und Onkel sagten das.
Die
andere Tante sagte das.
Alle
Nachbarn sagten das auch.
Mama
und Papa waren glücklich.
„Klara,
Du warst auch ein schönes Baby“, sagte Oma zu mir.
Oma
streichelte meine Wange und gab mir einen Kuss.
„Und
jetzt bist du groß und bald ein Schul·kind“,
sagte Oma.
Und
streichelte meine andere Wange und gab mir einen Kuss.
Ich
wollte Nina im Arm halten.
Ich
wollte ihr Gesicht streicheln.
Ich
wollte Nina einen Kuss geben.
Ich
durfte nicht.
„Nina
ist unser Sonnenschwein“, sagte Mama.
„Nina
ist ein Gute-Laune-Baby“, sagte Papa.
„Warum
ist Nina ein Gute-Laune-Baby?“, fragte ich.
„Weil
sie in der Nacht schläft“, sagte Papa.
„Nina
schreit nicht, sie lässt uns schlafen“, sagte Mama.
Sie
reden oft davon, wie schlimm ich war.
Jede
Nacht habe ich lange geschrien.
Sie
konnten wegen mir nicht schlafen.
Mussten
mich im Arm halten.
Und
mit mir herumlaufen.
Ein
ganzes Jahr ging das so.
Erst
dann habe ich weniger geschrien.
Nina
war immer lieb.
Am
Tag und in der Nacht.
Sie
lag ruhig in ihrem Bettchen.
Manchmal
lächelte sie.
Ich
durfte sie nur angucken.
Ich
war viel bei meiner Oma.
Sie
wohnte ganz in der Nähe.
Oma
und ich sind im Park spazieren gegangen.
Manchmal
in den Zoo.
Und
wenn es geregnet hat ins Museum.
Oder
ins Kino.
Dann
kam der Mai und mein Geburtstag.
Es
gab eine große Torte.
Darauf
waren ganz viele Marienkäfer aus Zucker.
Und
eine 6 aus Schokolade.
Meine
Oma hat die Torte gebacken.
Meine
Freunde aus der Vorschule waren gekommen.
Meine
beiden Tanten haben viele Geschenke gebracht.
Das
sind die Schwestern von meiner Mama.
Die
Tanten durften Nina halten.
„Ist
mit Nina alles in Ordnung?“, sagte eine Tante.
„Aber,
ja! Warum?“, sagte meine Mama.
„Sie
ist so ruhig“, sagte die Tante.
„Nina
ist eben ein zufriedenes Baby“, sagte meine Mama.
Einen
Monat später war der 1. Geburtstag von Nina.
Es
gab eine große Torte.
Oma
hat sie gebacken.
Ich
habe ihr dabei geholfen.
Ich
habe viele bunte Blumen darauf verteilt.
Und
Schmetterlingen aus Ess-Papier.
Die
beiden Tanten haben wieder viele Geschenke gebracht.
Spielzeuge
und Puppen.
Nina
hat es nicht in die Hand genommen.
Nicht
damit gespielt.
Die
Tanten haben Nina wieder im Arm gehalten.
„Läuft
Nina schon? Wie viele Schritte?“, fragte eine der Tanten.
„Kann
sie stehen?“, fragte die andere Tante.
„Krabbelt
sie?“
„Es
ist alles in Ordnung“, sagte Mama.
„Manche
Babys brauchen ein bisschen mehr Zeit“, sagte Papa.
Irgendwann
merkten auch meine Eltern,
Dass
mit Nina etwas nicht stimmte.
Sie
konnte nicht krabbeln, nicht laufen, nicht sprechen.
Aber
sie war doch immer gesund.
Hatte
guten Appetit.
Mama
hat geweint.
Papa
war traurig.
Sie
haben Nina zu allen möglichen Ärzten gebracht.
Nina
war ein Sorgen-Kind.
Und
kein Sonnenschein mehr für Mama und Papa.
Nur
Oma und ich sagten weiter zu Nina:
„Du
bist unser Sonnenschein.“
Ich
ging zur Schule.
Nach
der Schule war ich im Hort.
Dort
holte mich meine Oma ab.
Mein
Papa war arbeiten.
Meine
Mama brachte Nina zu den Ärzten.
Zur
Kranken-Gymnastik.
Zu
Ergo-Therapie.
„Da
spielt sie mit Bau-Klötzen“, sagte Mama.
Mit
neun Jahren konnte Nina ein paar Schritte laufen.
Und
sie brauchte keine Windel mehr.
Sie
sagte, wenn sie auf die Toilette musste.
Oma
hat mich zum Sport gebracht.
Und
zum Musikunterricht.
Oma
ist mit mir zum Sommerfest in der Schule gegangen.
Und
zu jedem Eltern · abend.
Und
wir sind zusammen in den Urlaub gefahren.
Immer
in einen anderen Kur-Ort.
Kur-Orte
sind kleine Städte.
Die
fangen immer mit Bad an.
Bad
Steben, Bad Kissingen, Bad Saarow, Bad Harzburg.
Da
waren viele alte Menschen unterwegs.
Mich
hat das nicht gestört.
Weil
überall ein Schwimmbad war.
Und
ich hatte spannende Bücher dabei.
Oma
hatte auch Bücher dabei.
Sie
hat Krimis gelesen.
Und
ich Abenteuer-Romane.
Dann
bin ich aufs Gymnasium gekommen.
Und
ganz zu meiner Oma gezogen.
Meine
Eltern hatten nichts dagegen.
Mein
Zimmer war nicht mehr mein Zimmer.
Da
waren Geräte, mit denen Nina üben musste.
Ein
zweiter Rollstuhl war auch da.
Und
viele andere Dinge.
Jeden
Sonntag hat Oma für alle gekocht.
Mama,
Papa und Nina sind zum Essen gekommen.
Oma
hat auch einen Apfelkuchen gebacken.
Den
hat Nina so gern gegessen.
Jede
Woche bin ich 2 Mal zu meinen Eltern gegangen.
Ich
wollte mit Nina im Rollstuhl spazieren gehen.
Nina
wollte das auch.
Unsere
Mama erlaubte es nicht.
Sie
war immer dabei.
Mama
hatte Angst, dass etwas passiert.
Was?
Das hat sie uns nie gesagt.
Dann
habe ich einen Kurs gemacht.
Da
habe ich viel über Rollstühle gelernt.
Und
wie man jemanden vom Bett in den Rollstuhl bekommt.
Das
haben wir im Kurs geübt.
Ich
habe eine Frau im Rollstuhl Treppe hoch und Treppe runter geschoben.
Stufe
für Stufe.
Und
vom Gehweg auf die Straße und wieder auf den Gehweg.
geschoben.
Dann
habe ich im Rollstuhl gesessen.
Und
die Frau aus dem Kurs hat mich geschoben.
Ich
habe große Angst gehabt.
Besonders
bei den Treppen.
Am
Ende habe ich eine Urkunde bekommen.
Trotzdem
durfte ich mit Nina im Rollstuhl nicht spazieren gehen.
Nina
konnte ein paar Schritte laufen.
Sie
war langsam und unsicher.
Aber
sie hatte einen starken Willen.
Sie
wollte es schaffen.
Und
sie übte fleißig.
Zu
Hause und in der Schule.
Besonders
in dem langen Gang in ihrer Schule.
Und
sie wollte Tanzen lernen.
Hatte
immer wieder versucht sich zu drehen.
Und
jedes Mal ist sie hingefallen.
In der
11. Klasse war mein Auslandsjahr in Amerika.
Dort
hat es mir gut gefallen.
Ich
war bei einer Familie, die so anders war als unsere.
Die
Eltern waren etwas älter als meine Eltern.
Sie
hatten 4 Kinder.
Drei
Töchter und einen Sohn.
Der
Sohn saß im Rollstuhl.
Er
hatte mit 7 Jahren einen Unfall.
Auf
dem Weg zur Schule hat ihn ein Auto erfasst.
Die
amerikanische Familie hat viel gelacht.
Und
ständig wurde etwas gefeiert.
Nicht
nur Geburtstage, so wie bei uns.
Alle
waren so fröhlich.
Die
Eltern haben getanzt und gelacht.
Meine
Eltern haben nie gelacht.
Sie
waren immer nur traurig.
Alles
war so schwer.
Oma
hat mir jeden Tag eine kurze E-Mail geschrieben.
Sie
hat einen Computer-Kurs für Senioren gemacht.
Senioren
sind alte Menschen.
Dabei
ist Oma gar nicht so alt.
Jeden
Abend hat sie mir von Nina geschrieben.
Wie
fleißig sie ist und dass sie viel übt:
Gehen,
Sprechen und Tanzen.
Mein
Jahr in Amerika war schnell vergangen.
Und
ich war wieder zu Hause bei meiner Oma.
Sie
hat sich sehr gefreut.
Nina
auch.
„Klara
ist da. Schön. Klara. Klara.“, sagte Nina.
Sie
hatte Tränen in den Augen.
„Du bist wieder da“, sagte Papa.
„Du
hättest öfter schreiben können“, sagte Mama.
Ihr
hättet mir auch schreiben können, dachte ich.
Sagte
es aber nicht.
Nina
war 13 Jahre alt.
Und
sie konnte allein in die Bäckerei gehen.
Brot
und Brötchen kaufen.
Die
Bäckerei war im Nebenhaus.
Und
Nina machte einen Tanz-Kurs.
Sie
konnte sich 2 Mal drehen.
Und
war schon lange nicht mehr hingefallen.
Ich
wollte eine gute Abitur-Note haben.
Und
in Amerika studieren.
Ich
habe viel gelernt.
Hatte
wenig Zeit für Nina.
Das
tat mir sehr leid.
Nach
dem Abitur bin ich gleich nach Amerika.
Habe
dort den ganzen Sommer gearbeitet.
Im
Herbst habe ich angefangen zu studieren.
Mathematik.
Jedes
Jahr in den Sommer-Ferien war ich bei meiner Familie.
Immer
nur ein paar Tage.
Ich
wollte mit Freunden durch Europa reisen.
Im
Sommer nach dem Studium war ich nicht zu Hause.
Ich
bin durch Südamerika gereist.
Danach
habe ich eine Arbeit an der Uni bekommen.
Die
Arbeit machte mir großen Spaß.
Jeden
Abend kam eine kurze E-Mail von meiner Oma.
Nina
war dabei lesen und schreiben zu lernen.
Nina
fehlte mir.
Meine
Familie fehlte mir.
Ich
habe so viel an Oma gedacht.
War
das Heimweh?
Ich
wollte alle so gern wieder · sehen.
Und
umarmen.
Und
zu Weihnachten überraschen.
Eine
Woche vor Weihnachten ging mein Flug.
Direkt
vom Flughafen bin ich zur Oma gefahren.
Es
war kalt.
Überall
lag Schnee.
Oma
war zu Hause.
„Klara,
schön, dass du da bist“, sagte Oma und umarmte mich.
„Willst
du etwas essen und eine Tasse Tee?“, fragte Oma.
„Später,
ich gehe erst zu Nina“, sagte ich.
„Nina
ist in der Schule. Sie spielt Theater“, sagte Oma.
„Wenn
du dich beeilst, dann bist du noch rechtzeitig dort.“
Draußen
war es glatt.
Ich
konnte nicht so schnell laufen.
Ich
bin in der Schule angekommen.
Bin
zum großen Saal gegangen, habe die Tür aufgemacht.
Im
Saal war es dunkel, nur die Bühne war beleuchtet.
Ich
setzte mich auf einen Stuhl neben der Tür.
Vor
der Bühne stand Nina.
Und
neben ihr ein Junge.
Der
Junge war groß und dick.
Er
hatte eine schwarze Hose und einen roten Pullover an.
Er
sah aus wie der Weihnachts·mann.
Ein
junger Weihnachts·mann ohne Bart und ohne
Mütze.
Nina
hielt seine Hand.
Sie
trug ein langes weißes Kleid und große, weiße Flügel am Rücken.
Dann
führte sie den jungen Weihnachts·mann
auf die Bühne.
Er
setzte sich auf den Boden neben einem roten Sack.
„Das
ist der Weihnachts·mann. Er bringt Geschenke“,
sagte Nina laut.
„Er
kann nicht sprechen, aber ich bin der Weihnachts·engel
und ich weiß, was Weihnachts·mann sagen will.“
„Ihr
könnt dem Weihnachts·mann etwas sagen oder ihn
etwas fragen“, sagte Nina.
„Dann
bekommt ihr ein Geschenk.“
„Das
ist Benni und er spricht nicht“, sagte ein Junge.
Der
Junge ging zur Bühne.
„Genau
und du bekommst dein Geschenk“, sagte Nina.
Sie
holte ein Päckchen aus dem Sack und gab es dem Jungen.
Es
gab viele Fragen an den Weihnachts·mann.
Nina
hatte auf jede Frage eine Antwort.
Und
alle Päckchen waren verteilt.
Dann
konnte man etwas sagen oder fragen,
aber
es gab keine Geschenke mehr.
„Weihnachts·mann,
magst du Weihnachten?“, fragte ein Mann
„Ja,
der Weihnachts·mann mag Weihnachten sehr“, sagte Nina.
„Warum?“,
fragte eine Frau.
„Weil
er nach Weihnachten nicht mehr arbeiten muss“, sagte Nina ernst.
Ein
paar Menschen lachten.
„Und
du, lieber Weihnachts·engel, magst du Weihnachten?“, fragte eine Frau.
„Manchmal.
Früher“, sagte Nina.
„Und
jetzt nicht mehr?“
„Nein“,
sagte Nina.
„Aber
du bist doch der Weihnachts·engel“, sagte eine andere
Frau.
„Das
ist Theater“, sagte Nina ernst.
„In
diesem Jahr haben wir Schnee. Weiße Weihnachten ist doch schön“, sagte eine
ältere Frau.
Nina
stand mitten auf der Bühne und sagte:
„Nein,
auch weiße Weihnachten ist nicht schön, ohne meine Schwester.“
Ich
trocknete meine Tränen und dachte:
Für
mich auch nicht ohne dich.
Mein
Weihnachts·engel.
Meine
Schwester.