Welch ein wunderschöner Frühlingstag! Die Sonne scheint hell und warm. Vor meinem Fenster hüpfen die Vögel zwischen den Tannenzweigen umher und zwitschern um die Wette. Lächelnd schaue ich ihnen zu.
Pling! Ich muss
lachen: Da ist er wieder. Manfred, der verrückte Vogel! Natürlich heißt kein
Vogel Manfred, das weiß ich auch. Aber ich finde, der Name passt zu dem kleinen
Buchfinken. Vorgestern war er schon da. Gestern auch. Und auch heute fliegt er
immer wieder gegen die blinkende Fensterscheibe. Bei jeder Flugrunde stößt er
mit seinem Schnabel an das Glas. Pling! Ich schüttele den Kopf. Das muss dem
kleinen Kerl doch wehtun! Ganz langsam stehe ich auf und bewege mich am Fenster
hin und her. Aufgeregt flattert Manfred davon, aber schon wenig später ist er
wieder da.
Lydia. Das Vogelweibchen sitzt auf demselben Ast wie Manfred. Gespannt beobachtet es dessen Flugkünste. Jetzt weiß ich, warum sich Manfred so seltsam benimmt: Er spiegelt sich in der geputzten Scheibe. Sein Spiegelbild hält er für einen anderen Vogelmann, den er verjagen muss. Wie soll Manfred sonst Lydias Herz erobern?
Pling. Pausenlos fliegt Manfred seine Angriffe, aber der andere will einfach nicht verschwinden. Manfred tut mir leid. Lydia auch. Nach einem so anstrengenden Tag hat Manfred bestimmt keine Lust mehr, ein Nest mit ihr zu bauen.
Mitleidig öffne ich das Fenster weit. Der Feind in der Scheibe ist verschwunden. Verschwunden sind aber auch Manfred und Lydia. Ich setze mich in meinen Sessel und warte ganz still ab. Es dauert nicht lange, dann sind die beiden Finken zurück in der Tanne und flattern eifrig umeinander herum.
Ich werde müde. Mein Kopf sinkt zur Seite – und plötzlich sitzt Manfred auf der Sessellehne. Mit schiefgelegtem Köpfchen beobachtet er mich. Dann öffnet er den Schnabel.
„Pink“, zwitschert er leise. Und noch einmal: „Pink, pink!“ Was er damit wohl sagen will? Ich glaube, das heißt „Dankeschön“ in der Vogelsprache.
Manfred trippelt ein paar Schritte auf der Sessellehne hin und her. Dann schüttelt er seine Flügel aus. Er startet zu einem Rundflug um die Deckenlampe, bevor er elegant wieder durch das offene Fenster in die Frühlingssonne hinausfliegt.
Draußen bellt ein Hund. Ich schrecke auf. Habe ich geschlafen? Ja, bestimmt habe ich geschlafen. Manfreds Besuch kann ja wohl nur ein Traum gewesen sein, oder? Gähnend recke ich mich.
Was kann ich nur tun, damit Manfred nicht wieder gegen mein Fenster fliegt? Dann fällt es mir ein: In einer Schublade liegt ein buntes Fensterbild aus Papier. Das hat meine Tochter vor ein paar Jahren gebastelt. Ich hole es heraus. Mit einem Klebestreifen befestige ich es an der Glasscheibe. Genau dort, wo Manfred sich immer gespiegelt hat. Jetzt wird das wohl nicht mehr passieren. Manfred wird denken, dass er den anderen Vogelmann ein für alle Mal vertrieben hat. Jetzt kann er mit Lydia glücklich werden.
Suchend schaue ich hinaus. Manfred und Lydia sind nirgends zu sehen. Aber sie werden wiederkommen, da bin ich mir sicher.
Ich drehe mich um und setze mich wieder in meinen Sessel. Plötzlich schwebt etwas von der Deckenlampe herab und landet genau auf meiner Hand. Verwundert betrachte ich die hübsche kleine Feder. Lächelnd blicke ich zum Fenster. Manfred ist wieder da. Ich könnte schwören, er zwinkert mir zu.