Ein Speckbrot für den Weihnachtsmann Vorlesen

30. Dez 2022Urs Luger
Der Weihnachtsmann mit seinem Rentier. Ein Bild von Ron Porter auf Pixabay.

Ein Speckbrot für den Weihnachtsmann

Ich sitze in meinem Zimmer und schreibe eine E-Mail. Draußen ist es dunkel.

Der Weihnachtsmann steht vor dem Fenster: weißer Bart, roter Mantel mit Pelzkragen, rote Hosen. Wie man ihn kennt. Er klopft an die Scheiben, er will herein.

Es ist kalt draußen. Der Weihnachtsmann friert. Seine Lippen sind blau, seine Zähne klappern.

Ich schreibe einer Freundin, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Ich habe jetzt keine Zeit für den Weihnachtsmann. Er soll woanders hingehen.

Ich sehe ihn an und schüttle den Kopf. Ich deute nach rechts in Richtung Nachbarwohnung. Er soll es dort versuchen. Denn links wohnt der Atheist. Der glaubt nicht an den Weihnachtsmann. Und wenn der Weihnachtsmann zu ihm kommt, lässt er ihn sicher nicht herein. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Aber auf der rechten Seite wohnt ein kleines Mädchen. Das würde sich über den Weihnachtsmann sicher freuen. Dort könnte er hingehen.

Aber nein, er bleibt vor meinem Fenster stehen. Er droht mir jetzt, schüttelt die Faust und plustert sich auf. Als das nichts nützt, verlegt er sich aufs Betteln. Schließlich zeigt er auf seinen großen Sack und sieht mich erwartungsvoll an. Er scheint mir alle möglichen Geschenke zu versprechen. Aber der Sack ist leer. Weihnachten ist vorbei. Alles ist verschenkt. Dienstschluss.

Als ich meine E-Mail beendet habe, ist er immer noch da. Ich lasse ihn nun doch herein, weil er mir leidtut und weil ich langsam ein schlechtes Gewissen bekomme. Aber, denke ich wütend, er könnte ja überall anders auch hingehen. Er müsste nicht gerade mir ein schlechtes Gewissen machen.

Dann steht er in meinem Zimmer, frierend, ein Häufchen Elend. Ich schließe schnell das Fenster, stelle Tee zu, hänge seinen Mantel auf und bringe ihm eine Decke. Ich frage ihn, ob er etwas essen möchte. Er möchte, und am liebsten hätte er Kuchen, sagt er. Aber damit kann ich nicht dienen. Er soll keine Ansprüche stellen. Ein Speckbrot wird es auch tun. Den Speck habe ich gestern erst gekauft, am Bauernmarkt. Der ist sehr gut. Ich finde es sehr freundlich von mir, dass ich ihm den überhaupt anbiete.

Na gut, sagt er, dann eben ein Speckbrot. Ob er vielleicht etwas Meerrettich dazu haben könnte?

Das gefällt mir, der Mann versteht offensichtlich etwas von Speck. Ich reibe ihm einen schönen großen Haufen. Die Schärfe steigt mir in Nase und Augen und mir kommen die Tränen. Als dann der Weihnachtsmann sein Bot isst, nimmt er – ich habe es nicht anders erwartet – viel zu viel vom Meerrettich und beginnt auch zu weinen.

Da sitzen wir dann zu zweit mit Tränen in den Augen, und das verbindet irgendwie. Ich bin jetzt doch ganz froh, dass ich ihn hereingelassen habe. Ich gebe ihm einen Schuss Rum in seinen Tee, damit er gut wärmt. Dann mache ich ihm einen Platz an der Heizung frei. Schön langsam taut er auf.

Wir schweigen beide. Worüber sollten wir auch reden?

Ich hole Kekse. Meine Großmutter hat mir eine Dose zu Weihnachten geschenkt, selbstgemachte. Ob er auch welche möchte? – Ja, doch, gerne.

Wir essen beide.

Ich frage ihn, was er hier macht. Warum er zu mir gekommen ist. Der Weihnachtsmann antwortet nichts. Er schlürft nur seinen Tee und isst noch mehr Kekse. Er ist in Gedanken versunken.

Ich werde ungeduldig. Er soll mir endlich sagen, was er von mir will. Andererseits, denke ich, er ist mir keine Rechenschaft schuldig. Er könnte mir einfach irgendeine Kleinigkeit aus seinem großen Sack geben und wieder abschwirren. Er ist schließlich der Weihnachtsmann.

Aber sein großer Sack ist leer. Aus. Schluss. Und auf einmal bemerke ich, dass er ziemlich traurig aussieht. Eine weitere Träne kullert gerade seine Wange hinunter. Vielleicht gibt es gar nichts zu sagen, denke ich. Vielleicht gibt es gar keinen bestimmten Grund, warum er gerade hier bei mir ist. Vielleicht ist er einfach nur müde und will sich ein bisschen ausruhen. Bevor er zurückfliegt Richtung Norden. Und vielleicht ist er einfach deshalb traurig, weil er überarbeitet ist. Und weil jetzt wieder einmal alles vorbei ist, mit einem Schlag. Alles, wofür er wochenlang gearbeitet und geschwitzt hat.

Ich frage ihn. Er nickt, schluchzt.

Ich lege meinen Arm um ihn und fühle mich dabei ein bisschen hilflos. Schließlich ist er der Weihnachtsmann. Und wer bin ich denn, dass ich den Weihnachtsmann trösten könnte. Aber es scheint ihm angenehm zu sein. Er lehnt sich in meinen Arm und kämpft jetzt so richtig mit den Tränen.

Es ist eben, beginnt er … es ist eben jedes Mal wieder so schwer, jedes Jahr. Wenn erst einmal alles vorbei ist... Und jetzt kommen die Tränen. Jetzt heult er Rotz und Wasser. Jetzt schüttelt es ihn richtig durch.

Es war einfach zu viel. Der ganze Stress der letzten Wochen. Zuerst die Vorbereitungen, dann das Austeilen der Geschenke. Und jetzt ist alles vorbei und er ist erschöpft und muss wieder zurück nach Hause. Aber dort ist es dunkel und kalt und er ist ganz allein. Und noch dazu habe ich ihn ewig vor dem Fenster warten lassen.

Das ist mir jetzt sehr unangenehm.

Nachdem ich ihn eine ganze Weile gehalten habe, stehe ich auf und hole mein Weihnachtsgesteck. Ich habe es zu Beginn des Advents gekauft, aber nie verwendet. Ein Zweig mit einem Zapfen, einer blauen Masche und einer Kerze, die noch gar nicht angezündet worden ist. Ich nehme mir jetzt auch einen Tee mit Rum und schenke dem Weihnachtsmann nach.

Ich kann natürlich nicht verhindern, dass er irgendwann doch wieder allein hinausmuss in die Kälte. Aber zumindest jetzt können wir es zusammen schön haben.

Ich zünde die Kerze an. Es riecht gleich nach Wachs und ein bisschen auch nach Fichtennadeln. Ich schaue lange in die warme gelbe Flamme. Wir nehmen beide einen Keks. Und dann noch einen. Wir trinken einen großen Schluck heißen Tee.

Eine letzte Träne sitzt dem Weihnachtsmann noch im Augenwinkel. Aber er lächelt wieder.

Dann beginnt er zu erzählen. Von seinem Haus in Lappland und von seinen Rentieren. Die sind für ihn schon wie gute Freunde geworden. Er erzählt von den langen Winterabenden, wenn Weihnachten vorbei ist. Wenn er am offenen Kamin sitzt, Bratäpfel isst, ins Feuer schaut und sich Geschichten ausdenkt. Oder einfach ein bisschen fürs nächste Jahr vorplant. Am liebsten, sagt er, würde er sich zu Weihnachten zu allen Kindern unter den Christbaum setzen. Er würde mit ihnen Weihnachtslieder singen und ihnen diese Geschichten erzählen. Geschichten aus Lappland, von kalten Winternächten, von den weißen Wäldern rings um sein Haus. Von Wäldern, in denen er ausgedehnte Wanderungen unternimmt, wenn die Tage wieder lang sind. Wenn der Schnee weggetaut ist. Wenn Sommer ist und er nichts zu arbeiten hat, weil Weihnachten noch weit ist. Wenn die Tage endlos sind und die Nächte nur ganz kurz. Er kennt die Bäume des Waldes, die einsamen Lichtungen und geheimen Wege. Er kennt die Pflanzen und die Tiere. Und er kennt auch die scheuen Wesen, die sich den Menschen nicht oft zeigen: die Elfen, die Zwerge und Trolle. Mit ihnen ist er gut befreundet.

Der Weihnachtsmann ist richtig ins Schwärmen geraten über „seine“ Wälder. Und ich bekomme Lust, da auch einmal hinzufahren. Am liebsten würde ich ihn gleich im nächsten Sommer besuchen und mit ihm gemeinsam auf Wanderung gehen. Aber ich traue ich mich nicht, ihn darum zu fragen. Im Sommer, denke ich, will er vermutlich seine Ruhe haben. Und der Weihnachtsmann lädt mich auch nicht von sich aus ein.

Schade, denke ich, und nehme mir noch einen Keks.

Ich schalte das Licht im Zimmer ab, nur aus der Küche kommt durch einen Türspalt noch ein kleines bisschen herein. Wir sitzen im Lichtkreis der Kerze, die jetzt auf einmal viel heller wirkt. Wände und Möbel verlieren sich im Halbdunkel.

Es ist schön, gemeinsam so dazusitzen. Es fühlt sich gut an.

Und dann beginnt der Weihnachtsmann zu singen, mit tiefer, voller Stimme: Oh Tannenbaum, Oh Tannenbaum. Zuerst ist es mir ein bisschen peinlich. Aber dann stimme ich probehalber doch mit ein, ganz leise. Beim nächsten Lied, Oh du fröhliche, bin ich schon nicht mehr ganz so vorsichtig. Das Singen gefällt mir, aber so richtig traue ich mich noch nicht. Ich schenke uns beiden Tee nach, wir prosten uns zu, und nun singe ich doch aus voller Kehle mit: Es hat sich heut’ eröffnet, das himmlische Tor. Ich singe gemeinsam mit dem Weihnachtsmann, wie die ganzen kleinen Engerln aus dem Himmel herauspurzeln.

Wir singen, bis wir alle Weihnachtslieder durchhaben, die ich kenne. So fröhlich war ich schon lange nicht mehr. In der Luft liegt Musik, die Kerze duftet und der Weihnachtsmann reibt sich zufrieden den Bauch.

Aber der Tee in der Kanne geht langsam zu Ende und die Kekse haben wir beinahe aufgegessen. Die ganze Dose.

Schließlich steht der Weihnachtsmann auf und sagt: So, jetzt muss ich aber gehen, die Rentiere warten ja draußen auf mich. Er greift in seinen Sack. Der ist anscheinend doch nicht ganz leer. Er holt von tief unten sein letztes Päckchen heraus. Ich soll es erst aufmachen, wenn er weg ist, sagt er. Ich nicke. Jetzt stehen mir die Tränen in den Augen. Und der Weihnachtsmann ist es, der mich tröstet. Er umarmt mich und bedankt sich für den Tee und die Kekse und das Speckbrot. Er wischt mir eine Träne von der Wange.

Ich mache ihm das Fenster auf und er steigt in seinen Schlitten. Dann fliegt er in die Nacht hinein, nach Norden, Richtung Lappland.

Ich blicke ihm lange nach. Auch als er schon nicht mehr zu sehen ist.

Schließlich mache ich das Fenster wieder zu. Es ist kalt geworden in der Wohnung. Ich drehe die Heizung etwas wärmer. Die Kerze brennt noch und ich schalte kein anderes Licht an. Ich erinnere mich an das Päckchen, das der Weihnachtsmann mir gegeben hat. Ich hole es und mache es auf. Heraus kommen viele kleine Lichter, die durch das Zimmer fliegen. Und dann finden sie sich langsam an einer Stelle zusammen. Ich bemerke staunend, dass sie jetzt aussehen wie ein Weihnachtsbaum voller kleiner Kerzen.

Ich stelle mich davor und singe noch einmal Oh Tannenbaum, Oh Tannenbaum. Und noch eine kleine Träne rinnt meine Wange hinunter. Ich denke an den Weihnachtsmann und die schöne Zeit, die wir zusammen verbracht haben. Ich denke an die Kekse, den Tee und die Geschichten. An seine liebevolle Umarmung zum Schluss. Ich denke daran, wie er sich auf dem Schlitten noch einmal umgedreht und gewunken hat. Dann hat er mit der Zunge geschnalzt, hat Jippiieehhh gerufen und ist mit seinen Rentieren davongebraust.

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1Kommentar

  • Samer
    03.01.2023 16:02 Uhr

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