Peter
von Monika Loerchner
„Mein bester Freund heißt Herr Ruben.
Aber ich nenne ihn Ben.
Er ist ein Einhorn und 394 Jahre alt.“
Nachdenklich schaue ich auf den Satz.
Manchmal stelle ich mir vor, Ben wäre ein echtes Einhorn.
Dann würde er mich jetzt sicher beißen.
Da bin ich echt nicht scharf drauf.
Immerhin bestehen seine Zähne aus Elfenbein.
Das heißt so, weil man damit Elfen-Knochen durchbeißen kann.
Das behauptet Ben zumindest.
Ich soll einen Schulaufsatz schreiben.
Das Thema ist „Mein bester Freund“.
Ich finde, das klingt wie ein Thema für die Grundschule.
Aber ich bin schon in der achten Klasse.
Und es stimmt ja nicht mal:
Ben ist nicht mein bester Freund.
Ben ist mein einziger Freund.
Egal.
Meine Lehrerin wird mich eh für bescheuert halten, wenn sie das hier liest.
Ich reiße die Seite aus meinem Blog.
Zerknülle sie.
Ich will sie gerade in den Mülleimer werfen, da halte ich inne.
Was, wenn Fabian den Zettel findet?
Ich streiche die Seite wieder glatt.
Ich nehme den Kuli.
Ich streiche alles durch.
Bis man es nicht mehr lesen kann.
Fabian darf das hier nicht finden.
Sonst zeigt er es in der ganzen Schule herum.
Oma hat mir Herrn Ruben geschenkt.
Da war ich sieben Jahre alt.
Oma roch immer nach Büchern und Vanilleeis.
Sie hat Mama immer gesagt, sie soll mich nicht so feste waschen.
Weil ich nicht dreckig bin.
Weil meine Haut nur einfach etwas dunkler ist.
Dann ist Oma gestorben.
Einmal wollte ich Mama erklären, wie Oma gerochen hat.
Mama hat nicht gelächelt.
Sie hat mit nicht übers Haar gestrichen.
Sie hat mir nicht gesagt, dass ich eine tolle Fantasie habe.
„Ey, du Verkehrsunfall!“
Lautes Geböllere gegen meine Tür.
Ich zucke nicht zusammen.
„Fresse, du Enttäuschung meines Lebens!“
Ben hat auf meinem Bett geschlafen.
Jetzt macht er die Augen auf.
„Das war aber lahm“, sagt er und schnaubt.
„Und so dumm wie ein Troll beim Eislaufen!“
„Ich weiß.“
Fabi böllert wieder gegen die Tür.
„Mama sagt, du sollst mir deinen Kinogutschein geben!“
Unsere Klassenlehrerin hat jedem von uns einen Kinogutschein geschenkt.
Sie hatte nämlich im Lotto ein bisschen Geld gewonnen.
„Das ist meiner“, brülle ich. „Den kriegst du nicht!“
„Mit wem willst du Stück Scheiße schon ins Kino gehen?“
Verdammt.
Wunder Punkt, zugegeben.
„Sag ihm, das geht ihn nichts an!
Und dass er doof ist“, lautet Bens Vorschlag.
„Gute Idee! Das sollte ich ihm sagen!“
Fabian heult auf: „Mama!
Der redet schon wieder so, als wäre noch einer da!“
Aber da hat er Pech.
Mama ist eben nochmal los.
Sie wollte irgendwas besorgen.
Ich habe sie gefragt, wann sie wiederkommt.
Sie hat nicht gelächelt und gesagt: „Bald!“
Sie hat nicht gesagt, ich soll mir keine Sorgen machen.
Sie hat mir nicht übers Haar gestrichen.
Mir keinen Kuss gegeben.
Mir nicht ins Ohr geflüstert, dass sie gleich eine Überraschung für mich hat.
„Fabi, lass gut sein!“, ruft Papa von ganz unten.
„Wir regeln das, wenn Mama wieder da ist.“
„Nee, oder? Dieser doofe Kameltreiber!“
Dann lässt Fabian mich in Ruhe.
„Danke“, sage ich zu Ben.
„Und was machen wir jetzt noch, Kollege? Ich habe keine Lust auf diesen blöden Aufsatz!“
„Ist das dein Ernst? Du nennst mich 'Kollege'?“
Ben rollt mit den Augen.
Er zieht seine Oberlippe hoch.
So guckt er, wenn er beleidigt ist.
„Wäre es dir lieber, wenn ich dich ‚Alter‘ nenne?“
Ich grinse.
„Was machen wir jetzt, ALTER?“
Ben schaut mich vorwurfsvoll an.
„Du musst noch die Bettwäsche waschen!“
„Die Bettwäsche!“, stöhne ich.
Die hatte ich ja total vergessen!
Dieser blöde Aufsatz hat mich völlig verwirrt!
Wütend werfe ich den Kugelschreiber in die Zimmerecke.
Starre.
Stille.
Herzpochen.
Ben legt den Kopf schief und lauscht.
Ich schaue zu Boden.
Die alten Holzbretter sind nur grob abgeschmirgelt.
Man sollte nicht mit der Hand darüberstreichen.
Sonst fängt man sich Splitter ein.
Es tut weh, wenn man sie herauszieht.
Mama macht das nie bei mir.
Sie singt nicht „Heile-heile Mausespeck, in hundert Jahren ist alles weg.“
Sie macht mir keine Salbe auf die Hand.
Und auch kein Pflaster.
„Es kommt niemand.“
Ben lässt den Kopf wieder sinken.
Ich liebe es, mich abends an ihn zu kuscheln.
Viel lieber wäre ich aber bei Mama und Papa im Bett.
Dann könnte mir Papa eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen.
Mama könnte mich in den Arm nehmen.
Sie könnte mir über die Wange streichen.
Sie würden mir sagen, wie lieb sie mich haben.
Es wäre schön, so einzuschlafen.
Aber das wollen sie nicht.
Egal.
Einatmen, ausatmen.
Ich muss cool sein, wie Fabian.
„Dann los!“
Ich wasche das Bettzeug in meiner Dusche.
Dabei bin ich ganz leise.
Das ist eigentlich gar nicht nötig.
Denn Mama und Papa kommen nie hier herauf.
Sie bringen mir nie einen Kakao.
Sie bringen mich nie ins Bett.
Ich bin viel selbstständiger als Fabian.
Viel selbstständiger als alle aus meiner Klasse.
Ich kümmere mich selbst um meine Schulsachen.
Und um meine Termine.
Meine Wäsche.
Und so.
Ich stelle die kleine Heizung auf meinen Schreibtisch.
Sie läuft mit Strom und pustet heiße Luft.
Wie ein Fön.
Ben sitzt vor der Tür und hält Wache.
Als Erstes ist das Bettlaken dran.
Ich halte es vor meiner Brust an zwei Ecken zusammen.
Es flattert in der warmen Luft.
Wie ein Umhang.
Als wäre ich Supermann.
Ich stelle mir vor, ich würde wegfliegen.
Vielleicht mache ich das ja eines Tages.
Ben könnte mitkommen.
Er hat schließlich Flügel.
Und er muss mit!
Er ist mein bester Freund.
Er ist der Einzige, der mich liebhat.
Mein Papa hat mich nicht lieb.
Er will nie mit mir Fußball spielen.
Er fährt nur mit Fabi zum Zelten.
Ich darf nicht einmal „Papa“ zu ihm sagen.
Ich liege unter Bens linkem Flügel.
Seine Federn kitzeln an meiner Nase.
Sie nennen mich „Party-Fick“,
„Kanaken-Balg“
und „Fremd-Stich“.
„Alkohol-Unfall“.
Weil meine Mama mich nicht von meinem Papa bekommen hat.
Weil meine Mama fremdgegangen ist.
Mit einem Mann, der auch dunkle Haut hat.
Deshalb singt mir meine Mama keine Gute-Nacht-Lieder.
Deshalb schreit meine Mama immer: „Du machst alles kaputt!“
Oder: „Glotz mich nicht so an mit deinen scheiß Öl-Augen!“
Meine Mama sagt nicht: „Ich habe dich lieb!“
Meine Mama sagt: „Ich hätte dich abtreiben sollen!“
Noch 1.621 Tage.
Dann bin ich 18.
„Bist du da?“
„Wo soll ich denn sonst sein?“, antwortet Ben.
Dann legt er seinen Flügel noch ein bisschen fester um mich.
Ich schließe die Augen.
Bin erleichtert.
Ben ist bei mir.
Jetzt kann ich schlafen.
Vielleicht träume ich ja was Schönes.
Vielleicht träume ich vom Fliegen.