Helena wandert.
Mit starrem Blick.
Mit Lärm in den Ohren.
Schritt für Schritt für Schritt.
Sie läuft durch die Stadt.
Menschen rempeln sie an.
Sie geht die Straße entlang.
Schritt für Schritt für Schritt.
Helena sieht nur das Hässliche.
Die übervollen Mülleimer.
Die Zigarettenkippen auf dem
Boden.
Sie riecht den Gestank der Autos.
Die Oktober-Sonne scheint durch
eine Lücke
in der grauen Wolkenwand.
Die Sonne blendet.
Helena kneift die Augen zusammen.
Sie geht weiter.
Schritt für Schritt für Schritt.
Aua!
Sie stößt gegen etwas Hartes.
Sie stolpert.
Fällt fast hin.
Eine Baustellen-Schranke versperrt
ihren Weg.
Helena weint.
Sie will weg von hier.
Weg aus ihrer Wohnung.
Hinaus aus der Stadt.
Weg von zu Hause.
Schritt für Schritt für Schritt.
Helena läuft über die Straße.
Etwas quietscht.
Helena erschrickt.
Sie stoppt.
Sie dreht sich um.
Vor ihr steht ein Auto.
Der Motor brummt und jault.
Musik dröhnt aus dem Wagen.
Die tiefen Töne treffen in ihren
Bauch.
Wie Schläge von einem Boxer.
Eine Stimme schreit: Weg, du
Schlampe.
Eine leise Stimme sagt: Das ist
gefährlich.
Eine Hand greift nach Helenas
Arm.
Führt sie auf die andere
Straßenseite.
Lässt sie dort stehen.
Helena will weit weg.
Weg von ihrem Freund, der sie
beschimpft hat.
Der sie lächerlich gemacht hat.
Der sie verletzt hat.
Mit Worten, mit Gesten, mit einem
Schlag.
Schritt für Schritt für Schritt.
Sie hat gedacht: Ihr Freund ist
ihre Heimat.
Er hat ihr gesagt, was richtig
ist.
Er hat gewusst, was gut für sie
ist.
Er hat sie beschützt vor dieser
Welt.
Helenas Freund ist laut.
Er weiß über alles Bescheid.
Helena wurde immer leiser.
Still. Stumm.
Sie hat keine eigene Stimme mehr.
Sie kann noch reden.
Aber sie kann nicht mehr sagen,
was sie will.
Jetzt ist Helena weg von ihrem
Freund.
Sie hat es nicht mehr
ausgehalten.
Denn er hat sie betrogen.
Er hat sie belogen.
Er hat ihre guten Gefühle
zertrampelt.
Sie fühlt sich heimatlos.
Wohin soll sie gehen?
Ohne eigene Stimme.
Helena wankt.
Sie hat Schwindel im Kopf.
Sie hasst den Schwindel.
Ihre Welt ist erschüttert.
Sie wackelt.
Sie bebt.
Helena hasst es, wenn jemand
schwindelt.
Wenn jemand lügt.
Wie ihr Freund.
Helena weiß nichts mehr.
Ihr Leben löst sich auf.
Die letzten Häuser liegen hinter ihr.
Sie geht einen steinigen Weg
entlang.
Matschig und löchrig und wüst.
Sie kommt an eine Kreuzung.
Soll sie rechts gehen?
Soll sie links gehen?
Geradeaus?
Ein Vogel flattert an ihr vorbei.
Sie hört, wie er pfeift.
Wie er zwitschert.
Sie folgt ihm.
Sie folgt seiner Stimme.
Ein eisiger Wind weht von Norden her.
Die Wolken ballen sich zusammen.
Wie Fäuste sehen sie aus.
Hart und kantig.
Dunkelblau, dunkelgrau.
Der erste Regentropfen prallt auf Helenas Stirn.
Ein Tropfen trifft ihre Wange.
Es donnert.
Es blitzt.
Es prasselt.
Die Wolken-Fäuste schütteln sich.
Regen fällt in wilden Bächen.
Wasserfälle aus den Wolken.
Helena will fort.
Fort aus dieser Kälte.
Fort vom Regen.
Fort aus diesem Leben.
Sie rennt.
Wohin?
Die Bäume am Wegrand bieten kaum Schutz.
Die Wasserfälle aus den Wolken wehen im Wind.
Hierhin. Dorthin.
Helenas Kleider sind durchnässt.
Die Nässe frisst ihre Wärme auf.
Helena friert.
Helena wartet.
Worauf?
Auf Licht?
Auf eine Stimme?
Auf Menschen, die die Wahrheit sagen?
Ein Blitz zuckt.
Es rumpelt.
Ein Donner?
Lichter huschen über den Weg.
Sie streifen Helena.
Sie huschen weiter.
Ein Auto folgt den Lichtern.
Seine Räder wirbeln Wasser auf.
Schlamm spritzt in Helenas Richtung.
Helena winkt.
Sie kennt dieses Auto.
Es ist bemalt mit tausend Blumen.
Es erinnert sie an ihre Kindheit.
An Wiesen, Lagerfeuer, Gitarrenmusik.
Helena ruft.
Doch ihre Stimme ist leise.
Sie läuft.
Durch nasses Gras und Pfützen.
Hinter dem Auto her.
Sie rutscht aus.
Platscht in den Schlamm.
Ihr Mund füllt sich mit Dreck.
Helena wimmert.
Vor Schmerzen.
Schmerzen im Bein und in der Seele.
Ihre Haut erfriert.
Ihr Herz kühlt ab.
Sie spürt eine Hand auf ihrer Hand.
Hört eine Stimme an ihrem Ohr.
Die Stimme von Ruth.
Sie hört:
Haben Sie sich verletzt?
Bist du das, Helena?
Kannst du aufstehen?
Komm mit auf den Hof.
Helena wäscht sich.
Sie steht unter Ruths Dusche.
Wieder überflutet Wasser ihren Körper.
Doch dieses Wasser wärmt.
Zumindest von außen.
Der Schlamm aus der Pfütze rinnt in den Abfluss.
Der Schlamm von ihren Händen und von ihrem Gesicht.
Helenas Gedanken sind fort.
Sie fühlt nur noch.
Sie fühlt sich froh.
Sie fühlt sich betrogen.
Sie fühlt sich aufgehoben.
Sie fühlt sich abgeschoben.
Ihre Gefühle wechseln wie die Wassertemperatur.
Wie eiskalter Regen und warme Dusche.
Helena schlüpft in frische Kleider.
Ruth hat sie bereit gelegt.
Die Kleider riechen nach Ruth.
Nach Heu.
Nach Kuhstall.
Nach Rauch.
Helena wärmt sich.
Jetzt auch von innen.
Sie sitzt in der Küche.
Im Herd flackert ein Holzfeuer.
Ihre Hände umschließen eine Tasse Tee.
Lindenblüten-Tee.
Wie früher, als sie ein Kind war.
Sie hat hier oft ihre Ferien verbracht.
Bei Ruth.
Bei den Pferden und den Kühen.
Bei den Schafen und den Ziegen.
Mit vielen anderen Kindern.
Ruth fragt: Wolltest du zu mir?
Helena schüttelt den Kopf.
Sie sagt: Ich weiß nicht, wohin ich wollte.
Ruth sagt: Vielleicht wussten es deine Füße.
Helena wundert sich.
Sie blickt ins Feuer.
Sie nickt.
Sie denkt: Vielleicht wussten meine Füße den richtigen Weg.
Vielleicht hat mir der Vogel den Weg gezeigt.
Mit seinem Gesang.
Ruth steht auf.
Sie macht Musik an.
Helena hört: Wie schön, dass du geboren bist.
Kinder singen.
Eine schlechte Aufnahme.
Es rauscht und knistert.
Aber Helena kennt diesen Chor.
Ihre Stimme ist ein Teil davon.
Sie hat mitgesungen.
Das ist schon lange her.
Sie hat es fast vergessen.
Das Lied bringt die Erinnerung zurück.
An Lagerfeuer und August-Geburtstage.
An Helenas Geburtstage.
Ruth hat jedes Jahr gefragt: Was wünschst du dir, Helena?
Helena hat geantwortet: Meine Herzmusik.
Die Herzmusik ist meine Heimat.
Und ihr seid meine Heimat.
Wir tragen die Heimat in uns.
Wie schön, dass wir alle geboren sind.
Helena fragt sich: Warum habe ich das vergessen?
Helena weint.
Vor Erschöpfung.
Vor Enttäuschung.
Ein wenig auch vor Glück.
Weil sie ihre Herzmusik wiedergefunden hat.
Vielleicht bringt ihr die Herzmusik die Stimme zurück.
Ruth begleitet sie in ein Schlafzimmer.
Mit Blick auf die Weiden.
Die Pferde sind im Stall.
Sie haben Schutz vor dem Gewitter gesucht.
Sie haben Schutz gefunden.
Sie haben Wärme gefunden.
Wie Helena.
Helena wacht auf.
Sie schaut aus dem Fenster.
Die Wolken sind jetzt hellgrau.
Sie rasen über den Himmel.
Blätter wirbeln im Wind durch die Luft.
Helena öffnet das Fenster.
Es raschelt und pfeift.
Herbstmusik.
Helena fröstelt.
Sie riecht den Herbst.
Die Äpfel, die Walnüsse, die feuchte Erde.
Helena wohnt drei Tage bei Ruth.
Sie streift über den Hof.
Streichelt die Kühe.
Füttert die Pferde.
Erntet Äpfel.
Sie sucht ihre Vergangenheit.
Sie findet ihre Vergangenheit.
Sie findet ihre Stimme wieder.
Drei Tage summt Helena ihre Herzmusik.
Ihre Stimme wird immer lauter.
Helena singt und tanzt.
Sie lässt die Musik in sich fließen.
Sie lässt die Musik aus sich fließen.
Bis sie sicher weiß:
Wie schön, dass ich geboren bin.
Wie schön, dass ich meine Heimat in mir trage.
Wie schön, dass ich meine Heimat bin.
Helena wächst.
Innerlich.
Äußerlich ist sie schon lange groß.
Erwachsen.
Aber erst jetzt ist ihr klar:
Sie kann selbst über ihr Leben bestimmen.
Und sie entscheidet sich zu gehen.
Weiter zu gehen.
Sie trägt ihre Vergangenheit in die Gegenwart.
Sie wandert weiter in die Zukunft.
Sie sucht ein Leben, das zu ihr passt.
Mit der Heimat im Herzen.
Mit ihrer Herzmusik.
Mit ihrer eigenen Stimme.