Tango im Schnee
Endlich!
Emma guckt aus dem Fenster. Es schneit! Darauf hat sie so lange gewartet. Sie liebt den Winter. Die Schneeflocken. Und das Gefühl unter den Füßen, wenn sie über den Schnee läuft.
Schnell zieht sie sich einen
Mantel über. Sie will sofort nach draußen rennen.
„Stopp!“, hört sie auf einmal.
Emma dreht sich um.
Kim grinst sie an: „Nicht die
Schuhe vergessen.“
Kim und Emma teilen sich die Wohnung. Sie studieren beide in einer kleinen Stadt. Dort gibt es fast nur Leute, die studieren. Sie sind die besten Freundinnen.
Emma grinst zurück.
„Danke!“
Dann rennt sie nach draußen.
Sie atmet tief ein. Die Luft ist klar und kalt. Der Schnee liegt auf ihren Haaren. Emma liebt das. Dann hört sie, wie jemand laut lacht.
„Du bist die Einzige, die den Schnee so liebt!“, ruft Kim. Sie steht im Türrahmen und sieht Emma zu. Die hüpft jetzt und tanzt durch den Garten. Das nennt sie Schnee-Tanzen.
„Pass auf, dass du nicht
hinfällst!“
Kim schüttelt den Kopf. Sie
muss wieder lachen. Dann geht sie zurück in die Wohnung. Sie mag den Schnee
nicht. Und die Kälte erst recht nicht.
Aber Emma liebt diese Jahreszeit.
Während sie tanzt, denkt sie an José. Bei ihm ist jetzt nicht Winter, sondern Sommer. Er ist auf der anderen Seite der Welt. In Argentinien. Die Hauptstadt heißt Buenos Aires. Dort hat Emma zwei Semester studiert.
Emma vermisst José. Sie vermisst ihn immer, aber besonders in solchen Momenten. Sogar die schönsten Momente fühlen sich dann manchmal auch ein bisschen traurig an.
Sie erinnert sich noch gut, wie sie José kennengelernt hat. Er hat in der Uni neben ihr gesessen. Er war ein bisschen schüchtern. Und sie hat sich auch nicht getraut, etwas zu sagen. Vor allem konnte sie nicht viel Spanisch sprechen.
Aber dann mussten sie über etwas lachen. Er hat sie dabei angezwinkert. Dann hat er doch etwas gesagt. Emma hat nur die Hälfte verstanden. Aber mit der Zeit ist ihr Spanisch besser geworden. Und mit der Zeit haben sie immer mehr geredet. Er hat ihr Tango beigebracht. Das ist ein argentinischer Tanz.
Emma und José sind zusammen viel gereist. José kommt eigentlich aus Paraguay. Das ist ein Land direkt neben Argentinien. Sie sind zusammen dorthin gefahren. Dort hat sie seine Familie kennengelernt. Sie hat sich mit ihm sofort zuhause gefühlt.
Ein paar Monate später musste sie abreisen. José und sie standen lange am Flughafen und haben sich umarmt. Emma vergisst nie seinen Blick, als sie gehen musste. Im Flugzeug hat sie viel geweint.
„Hey, bist du noch nicht
erfroren?“
Emma erschrickt. Sie hat ganz
vergessen, wo sie ist. Im Kopf war sie bei José.
Jetzt steht Kim wieder in der
Tür. Und Emma merkt, dass ihr inzwischen doch kalt geworden ist. Sie geht
zurück zum Haus.
„Alles okay?“, Kim ist jetzt
etwas besorgt. Emmas Gesicht sieht nicht mehr so fröhlich aus wie vorhin.
„Ach, ich musste nur gerade an
José denken. Er fehlt mir.“
Für einen kurzen Moment lächelt sie traurig. Es ist jetzt vier Jahre her, dass sie sich kennengelernt haben. Seitdem sind sie ein Paar. Sie versuchen, sich einmal oder zweimal im Jahr zu sehen. Der Flug nach Argentinien ist sehr lang und sehr teuer. Aber bisher haben José und Emma das geschafft.
Kim bewundert das. Sie kann sich so eine große Entfernung nicht vorstellen. Sie ist froh, dass Luisa in der gleichen Stadt wohnt. Die beiden sind noch nicht lange ein Paar. Aber bis jetzt hat Kim ein gutes Gefühl.
Emma legt ihren Mantel ab und zieht die Schuhe aus. Dann läuft sie in die Küche und setzt Wasser auf. Wenn sie José und Argentinien sehr vermisst, kocht sie sich einen Mate-Tee. Das ist ein Getränk aus Argentinien. Der Tee ist heiß, aber man trinkt ihn auch in der Hitze. Alle teilen ihn miteinander. Wenn sie daran riecht, denkt sie an den Sommer dort.
Jede Jahreszeit ist besonders, findet Emma. In Deutschland liebt sie die Blüten im Frühling. Und sie liebt die Sonne im Sommer. Im Herbst liebt sie es, wenn die Blätter rot, gelb und orange werden. Und im Winter liebt sie den Schnee. Trotzdem vermisst sie manchmal den Sommer in Argentinien, auch wenn sie dort fast das ganze Jahr lang nur Sommer hatte.
Das Wasser hat gekocht. Wieder
war Emma ganz mit ihren Gedanken beschäftigt. Was ist denn heute los mit ihr?
„Möchtest du auch?“, Emma
reicht Kim den Mate.
„Oh ja!“
Kim liebt Mate-Tee. Sie hat
ihn durch Emma kennengelernt. Sie kann den Winter nicht mehr ohne Mate-Tee
überstehen.
Zusammen sitzen sie am
Küchentisch und schauen nach draußen. Es schneit immer noch.
„Durch den Schnee fühle ich
mich ganz weihnachtlich.“, sagt Kim. „Hast du Lust, die Wohnung zu dekorieren?“
Erst überlegt Emma. Eigentlich
fühlt sie sich gar nicht weihnachtlich, obwohl es schneit. Aber dann denkt sie,
dass es eine gute Ablenkung ist.
„Ja, komm.“, sagt sie und
steht auf.
Sie gehen zusammen in den
Keller. Dort stehen viele Kisten und noch viel mehr Gerümpel. Die beiden
schauen sich an.
„Na dann … Weißt du noch, wo
die Kisten mit der Dekoration sind?“, fragt Kim und runzelt die Stirn.
„Wo haben wir sie denn letztes
Jahr wieder abgestellt?“, fragt Emma. Auch sie weiß nicht weiter. Sie wohnen
schon drei Jahre hier, aber sie haben nie den Keller aufgeräumt.
Kim und Emma schauen sich an.
Dann müssen sie plötzlich lachen.
„Du suchst hier vorne und ich
da hinten.“, sagt Kim und die beiden machen sich an die Arbeit.
Nach einer halben Stunde haben
sie die Kisten endlich gefunden. Oben in der Wohnung packen sie alles aus:
Lichterketten, Sterne, Kerzen.
„Guck mal, das hat mein Neffe
mal für mich gebastelt!“, ruft Kim und hebt einen Stern aus Papier hoch. „Das
ist schon so lange her…“
„Der Stern ist richtig schön!
Der bekommt einen besonderen Platz.“, meint Emma.
Sie packen alles aus. Bald
hängen überall Lichterketten und Sterne. Auch die Kerzen verteilen sie in der
Wohnung.
Zufrieden schauen Emma und Kim
sich um.
„Jetzt sieht es nach
Weihnachten aus.“, sagt Kim. Sie trinkt einen Schluck Mate.
„Aber bis dahin sind es noch vier Wochen…“, sagt Emma. Wieder muss sie an José denken. Bis sie sich das nächste Mal sehen, dauert es noch fünf Monate und elf Tage. Über Ostern möchte er nach Deutschland kommen.
Emma seufzt.
„Was ist los?“, fragt Kim
direkt. Sie merkt immer, wenn es Emma nicht gut geht.
„Es dauert noch so lange, bis
ich José wiedersehe.“, sagt Emma leise. Sie schaut auf den Boden.
Kim sieht sie lange an. Sie
weiß nicht, was sie sagen soll.
„Ihr habt schon so viel
geschafft, das schafft ihr auch noch!“, sagt sie dann. Sie geht auf Emma zu und
nimmt sie in den Arm. Als Emma es nicht sieht, muss Kim grinsen. Sie darf sich
jetzt nur nicht verraten.
„Komm, wir backen Kekse!“,
ruft sie dann.
Emma schaut sie verwirrt an.
„Was denn?“, fragt Kim. „Wir
müssen uns noch mehr nach Weihnachten fühlen!“
Sie läuft in die Küche. Emma
kommt ihr hinterher.
„Du willst dich doch sonst noch nicht so früh nach Weihnachten fühlen.“, sagt sie. Emma findet, dass Kim sich ein bisschen komisch verhält. Aber egal.
„Ich will dich aufmuntern.“, sagt Kim. Sie holt die Zutaten hervor: Mehl, Zucker, Butter, Eier, Milch, Zimt. Schon bald riecht die Küche nach Weihnachten.
Als die Kekse fertig sind,
holt Emma ihr Handy heraus.
„Das muss ich José zeigen.“,
sagt sie und will ihn mit Video anrufen.
Es klingelt und klingelt. Aber
José hebt nicht ab.
„Komisch. Eigentlich muss er schon lange wach sein.“, Emma schaut auf die Uhr und rechnet: Dort ist es jetzt 12 Uhr mittags. Da ist José auf jeden Fall schon wach.
„Vielleicht hat er viel zu tun.“, meint Kim. Sie versucht, unschuldig auszusehen. Zum Glück ist Emma so beschäftigt, dass sie es nicht merkt. Sie will ihn noch einmal anrufen. Dann schickt sie ihm nur ein Foto von den Keksen.
Emma und José haben sich schon tausende Fotos geschickt. Sie telefonieren sehr viel. Und sie schreiben sich jeden Tag Nachrichten. Manchmal haben sie beide viel zu tun. Aber auch dann schreiben sie sich mindestens eine kleine Nachricht. Zum Glück kann man mit Video telefonieren. So können sie sich sehen, auch wenn das nur auf dem Handy ist.
Trotzdem wünscht sich Emma oft, dass sie auch den Alltag zusammen erleben. Manchmal beneidet sie Kim. Sie kann Luisa einfach spontan treffen. Und dann essen sie ein Eis. Oder sie gehen spazieren. Oder frühstücken in einem Café. Das können Emma und José nicht.
Aber dann denkt Emma an die Momente, wenn sie sich am Flughafen wiedersehen. An die große Freude, wenn sie sich endlich wieder umarmen können. Das Warten hat sich immer gelohnt. Und Emma weiß, dass es sich auch die nächsten fünf Monate und elf Tage lohnen wird.
„Die sind richtig gut
geworden!“, sagt Kim mit vollem Mund. Emma probiert auch einen Keks.
„Stimmt!“
Sie lächeln sich an. Und es
stimmt: Beide fühlen sich noch mehr nach Weihnachten.
„Weißt du was?“, sagt Emma. „Lass uns doch ein bisschen nach draußen gehen. Wollen wir im Park spazieren gehen?“
Kim zögert. Sie schaut auf die Uhr. Eigentlich ist es keine gute Idee, jetzt zu gehen. Aber das kann sie Emma nicht sagen.
„Ach, ich weiß nicht. Ich habe bei dem Schnee nicht so Lust.“, sagt Kim. Das ist eine Ausrede. Aber was soll sie sonst machen?
„Echt? Du gehst doch sonst bei jedem Wetter spazieren!“, sagt Emma. „Komm schon, wir können doch kurz – “
Emma hört mitten im Satz auf zu reden. Sie schaut aus dem Fenster. Bildet sie sich das gerade ein? Am Gartentor steht ein Mann. Und der sieht aus wie José. Das muss sie sich einbilden. Aber jetzt öffnet der Mann das Tor. Und seine Haare sehen genauso aus wie die von José. Die Jacke hat José auch, glaubt sie.
„Das kann doch nicht sein …“, murmelt sie.
Sie dreht sich auf der Stelle um und rennt zur Haustür. Ihr Herz klopft laut. Emma öffnet die Haustür.
Und tatsächlich!
José steht vor ihr. Direkt vor ihr! Nur ein paar Meter entfernt. Ganz in echt. Emma glaubt es fast nicht. Träumt sie gerade?
Nein, es ist echt. Es passiert wirklich. José kommt auf sie zu. Und dann rennt Emma in seine Arme. Sie drückt ihn fest an sich und will ihn nie wieder loslassen.
„Hola, mi amor.“, sagt er.
Das heißt: „Hallo, meine Liebe.“
Sie hat seine Stimme so vermisst!
Sie stehen in der Kälte. Aber in ihren Herzen ist ganz viel Wärme. Emma und José umarmen sich ganz fest.
„Du sieht das erste Mal Schnee!“, ruft Emma. Warum ist das das Erste, was ihr einfällt? Sie kann gar nicht aufhören zu lächeln.
„Und der ist sehr kalt!“
José zittert schon. Emma nimmt
seine Hände.
„Ich zeige dir jetzt was.“,
sagt sie. „Dann wird dir auch warm!“
Und schon fängt sie an zu
tanzen. José lacht.
„Was wird das?“
„Schnee-Tanzen!“, ruft Emma.
„Schnee-Tango!“
Vorsichtig macht José mit. Er muss aufpassen, dass er nicht ausrutscht. Aber mit Emma fühlt er sich sicher.
Und mit ihr fühlt er sich zuhause. Egal, ob sie in Argentinien oder in Deutschland sind. Im Sommer oder im Winter. Tango kann man auch im Schnee tanzen.
„Emma?“, fragt er. Sie tanzen
immer noch.
„Ja?“
„Ich will jede Jahreszeit mit
dir erleben.“
Arm in Arm gehen sie hinein, wo Kim wieder im Türrahmen steht. Sie hat die Arme verschränkt und grinst.
„Du wusstest, dass er kommt, oder?“, fragt Emma und lacht.
„Na klar!“