Freundinnen
„Thea,
hast Du mich gehört?“
Die
Lehrerin sieht mich an.
Wartet.
Ich
sehe die Tafel an.
Schlucke.
Meine
Hände werden nass.
Mein
Herz schlägt schneller.
Ich
bekomme nicht genug Luft.
Mein
Gesicht wird warm.
„Thea,
bitte antworte.“
„Ich
weiß es nicht“, sage ich.
„Du
musst besser zuhören.“
Dann
fragt sie einen anderen Schüler.
Oder
eine andere Schülerin.
Aber
ich kenne die Antwort.
Kann
sie nur nicht so schnell sagen.
Ich
denke langsam.
Spreche
langsam.
Ich
atme aus und wieder ein.
Luft
in meinen Lungen.
Frische
Luft.
Mein
Herz schlägt langsamer.
Ich
wische meine Hände an meiner Hose ab.
Meine
Lehrerin irrt sich.
Ich
höre zu.
Die
ganze Zeit.
Es
ist zu viel.
Es
ist zu schnell.
Manchmal
will ich mich melden.
Dann
schaue ich meinen Arm an.
Will
ihn heben.
Und
dann sagt die Lehrerin etwas Neues.
Und
ich komme durcheinander.
Alle
in der Klasse haben einen Sitznachbarn.
Nur
ich nicht.
Ich
sitze allein in der letzten Reihe.
Ein
ganzes Schuljahr.
Zwei
Jahre muss ich noch zur Schule gehen.
Nach
den Ferien kommt eine neue Schülerin in die Klasse.
Sie
setzt sich neben mich.
Ihr
Name ist Mediha.
Sie
kommt vom Balkan.
Dort
ist Krieg.
Mediha
spricht wenig.
Aber
sie meldet sich immer,
wenn
die Lehrerin eine Frage stellt.
Die
Lehrerin fragt zuerst mich.
Meine
Antwort kommt nicht schnell genug.
Die
Lehrerin nimmt Mediha dran.
Mediha
antwortet sofort.
Ihre
Antwort ist immer richtig.
Die
Lehrerin steht meistens vorne.
Manchmal
geht sie langsam zu uns.
Ich
atme dann schneller.
Fange
an zu zittern.
Mediha
meldet sich.
Streckt
den rechten Arm nach oben.
Mit
der linken Hand nimmt sie meine Hand.
Sie
hält meine Hand fest.
Und
wieder kann ich nicht antworten.
Aber
mein Herz schlägt nicht mehr so schnell.
Meine
Hände schwitzen nicht so wie früher.
Die
Lehrerin geht weiter.
Der
Herbst beginnt.
Bunte
Blätter fallen von den Bäumen.
Wirbeln
durch die Luft.
Es
ist kalt und windig.
Das
Wetter hilft mir.
Mir
ist immer noch zu warm.
Ich
fühle mich immer noch schlecht.
Aber
die kühle Luft macht es besser.
Mein
Gesicht ist nicht mehr so warm.
Meine
Hände nicht mehr nass.
Ich
atme tief ein.
Ich
denke an Mediha.
Und
an den Krieg.
Die
Bilder vom Krieg sind jeden Tag im Fernsehen.
Die
sind ganz schlimm.
Zum
Glück ist Mediha nicht dort.
Zu
Hause ist meine Mutter.
Sie
kocht.
Es
riecht lecker.
Aber
ich habe keinen Appetit.
„Wie
war der Schul-Tag?“
„Schwer.“
„Du
lernst viel Neues.“
„Ja,
und Schweres.“
„Du
musst mehr lernen.
Dann
schaffst du es auch.“
Meine
Mutter lächelt.
Versteht
sie mich überhaupt?
Ich
bin verzweifelt.
„Hast
Du Hunger?
Es
gibt Spaghetti Bolognese.“
„Nein,
danke, später.“
Mama
dreht sich um.
Und
macht die Küche sauber.
Ich
gehe in mein Zimmer.
Es
sieht alles aus wie am Morgen.
Am
Morgen war ich gut gelaunt.
Habe
mich auf den Tag gefreut.
Und
jetzt bin ich traurig.
Am
nächsten Tag schreiben wir einen Test.
Biologie.
Ich
muss lernen.
Ich
schreibe mir alles auf.
Das
mache ich jeden Tag.
So
kann ich es mir besser merken.
Hoffentlich
reicht es für eine 4.
Die
Lehrerin verteilt die Blätter.
In
der Bank vor uns sitzt Hannes.
Er
ist sehr groß und dick.
Wie
ein Bär.
Er
sitzt vor Mediha.
Die
Lehrerin geht nach vorne zu ihrem Tisch.
Und
setzt sich auf ihren Stuhl.
Sie
sitzt gerade und sieht in die Klasse.
Hannes
sitzt auch gerade.
Die
Lehrerin kann Mediha hinter ihm nicht sehen.
Mediha
beugt sich über das Blatt.
Sie
schreibt die Antworten mit einem Filzstift.
Und
schiebt das Blatt in die Mitte vom Tisch.
Ich
erkenne ein paar Worte.
Das
reicht mir.
Mir
fallen die Antworten ein.
Mediha
zieht das Blatt zurück zu sich.
So
macht sie das ein paar Mal.
Ganz
schnell.
Blatt
in die Mitte.
Blatt
wieder zurück.
Ich
komme gut voran.
Für
die letzte Frage habe ich keine Zeit mehr.
Nach
der Schule sage ich zu Mediha:
„Wir
haben geschummelt.“
„Nein,
das war kein richtiges Schummeln.
Nur
eine kleine Hilfe, du kannst doch alles.“
Mediha
lacht.
Ich
lache auch.
„Danke
für deine Hilfe“, sage ich.
„Gern
geschehen, wir sind doch Freundinnen, oder?“, sagt sie.
„Ja,
wir sind Freundinnen“, sage ich.
Mediha
umarmt mich zum Abschied.
Ich
gehe glücklich nach Hause.