Freundinnen Vorlesen

05. Nov 2021Anna-Maria Leto
Freundinnen, Bild von Foundry Co auf Pixabay

Freundinnen

„Thea, hast Du mich gehört?“
Die Lehrerin sieht mich an.
Wartet.
Ich sehe die Tafel an.
Schlucke.
Meine Hände werden nass.
Mein Herz schlägt schneller.
Ich bekomme nicht genug Luft.
Mein Gesicht wird warm.
„Thea, bitte antworte.“
„Ich weiß es nicht“, sage ich.
„Du musst besser zuhören.“
Dann fragt sie einen anderen Schüler.
Oder eine andere Schülerin.
Aber ich kenne die Antwort.
Kann sie nur nicht so schnell sagen.
Ich denke langsam.
Spreche langsam.
Ich atme aus und wieder ein.
Luft in meinen Lungen.
Frische Luft.
Mein Herz schlägt langsamer.
Ich wische meine Hände an meiner Hose ab.
Meine Lehrerin irrt sich.
Ich höre zu.
Die ganze Zeit.
Es ist zu viel.
Es ist zu schnell.
Manchmal will ich mich melden.
Dann schaue ich meinen Arm an.
Will ihn heben.
Und dann sagt die Lehrerin etwas Neues.
Und ich komme durcheinander.

Alle in der Klasse haben einen Sitznachbarn.
Nur ich nicht.
Ich sitze allein in der letzten Reihe.
Ein ganzes Schuljahr.
Zwei Jahre muss ich noch zur Schule gehen.

Nach den Ferien kommt eine neue Schülerin in die Klasse.
Sie setzt sich neben mich.
Ihr Name ist Mediha.
Sie kommt vom Balkan.
Dort ist Krieg.
Mediha spricht wenig.
Aber sie meldet sich immer,
wenn die Lehrerin eine Frage stellt.
Die Lehrerin fragt zuerst mich.
Meine Antwort kommt nicht schnell genug.
Die Lehrerin nimmt Mediha dran.
Mediha antwortet sofort.
Ihre Antwort ist immer richtig.

Die Lehrerin steht meistens vorne.
Manchmal geht sie langsam zu uns.
Ich atme dann schneller.
Fange an zu zittern.
Mediha meldet sich.
Streckt den rechten Arm nach oben.
Mit der linken Hand nimmt sie meine Hand.
Sie hält meine Hand fest.
Und wieder kann ich nicht antworten.
Aber mein Herz schlägt nicht mehr so schnell.
Meine Hände schwitzen nicht so wie früher.
Die Lehrerin geht weiter.

Der Herbst beginnt.
Bunte Blätter fallen von den Bäumen.
Wirbeln durch die Luft.
Es ist kalt und windig.
Das Wetter hilft mir.
Mir ist immer noch zu warm.
Ich fühle mich immer noch schlecht.
Aber die kühle Luft macht es besser.
Mein Gesicht ist nicht mehr so warm.
Meine Hände nicht mehr nass.
Ich atme tief ein.
Ich denke an Mediha.
Und an den Krieg.
Die Bilder vom Krieg sind jeden Tag im Fernsehen.
Die sind ganz schlimm.
Zum Glück ist Mediha nicht dort.

Zu Hause ist meine Mutter.
Sie kocht.
Es riecht lecker.
Aber ich habe keinen Appetit.
„Wie war der Schul-Tag?“
„Schwer.“
„Du lernst viel Neues.“
„Ja, und Schweres.“
„Du musst mehr lernen.
Dann schaffst du es auch.“
Meine Mutter lächelt.
Versteht sie mich überhaupt?
Ich bin verzweifelt.
„Hast Du Hunger?
Es gibt Spaghetti Bolognese.“
„Nein, danke, später.“
Mama dreht sich um.
Und macht die Küche sauber.
Ich gehe in mein Zimmer.
Es sieht alles aus wie am Morgen.
Am Morgen war ich gut gelaunt.
Habe mich auf den Tag gefreut.
Und jetzt bin ich traurig.
Am nächsten Tag schreiben wir einen Test.
Biologie.
Ich muss lernen.
Ich schreibe mir alles auf.
Das mache ich jeden Tag.
So kann ich es mir besser merken.
Hoffentlich reicht es für eine 4.

Die Lehrerin verteilt die Blätter.
In der Bank vor uns sitzt Hannes.
Er ist sehr groß und dick.
Wie ein Bär.
Er sitzt vor Mediha.
Die Lehrerin geht nach vorne zu ihrem Tisch.
Und setzt sich auf ihren Stuhl.
Sie sitzt gerade und sieht in die Klasse.
Hannes sitzt auch gerade.
Die Lehrerin kann Mediha hinter ihm nicht sehen.
Mediha beugt sich über das Blatt.
Sie schreibt die Antworten mit einem Filzstift.
Und schiebt das Blatt in die Mitte vom Tisch.
Ich erkenne ein paar Worte.
Das reicht mir.
Mir fallen die Antworten ein.
Mediha zieht das Blatt zurück zu sich.
So macht sie das ein paar Mal.
Ganz schnell.
Blatt in die Mitte.
Blatt wieder zurück.
Ich komme gut voran.
Für die letzte Frage habe ich keine Zeit mehr.

Nach der Schule sage ich zu Mediha:
„Wir haben geschummelt.“
„Nein, das war kein richtiges Schummeln.
Nur eine kleine Hilfe, du kannst doch alles.“
Mediha lacht.
Ich lache auch.
„Danke für deine Hilfe“, sage ich.
„Gern geschehen, wir sind doch Freundinnen, oder?“, sagt sie.
„Ja, wir sind Freundinnen“, sage ich.
Mediha umarmt mich zum Abschied.
Ich gehe glücklich nach Hause.

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