Ein fast normaler Tag
Seitdem
Max und ich im Ruhestand sind, klingelt
morgens der Wecker nicht mehr. Deshalb
muss, was ich jetzt höre, die
Türklingel sein. Ich
reibe mir die Augen und schaue auf die leise
tickende Uhr auf der Kommode neben meinem
Bett: 8.30 Uhr!
„Was
für einen Tag haben wir heute?“, frage
ich Max.
„Freitag“,
brummt mein Mann.
Freitag.
Wochenmarkt. Also
raus aus den Federn!
Es klingelt noch einmal. Das kann nur Birgit sein. Ich springe aus dem Bett, ziehe meinen Bademantel über und gehe zur Tür, um ihr zu öffnen.
Seit kurzem hilft Birgit uns im Haushalt. Eigentlich hat sie einen Schlüssel. Aber den hat sie heute vergessen. Weil ihre Eltern nach dem Zweiten Weltkrieg nach Südamerika ausgewandert sind, wurde Birgit in Uruguay geboren. Sie hat mir erklärt, wie man das ausspricht: „U-ru-gu-ay. Das Ay bitte wie Ei.“ Vor 20 Jahren ist sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in unsere junge Stadt gezogen.
Ja, unsere Stadt ist wirklich jung. Denn 75 Jahre sind kein Alter. Jedenfalls kein Alter für eine Stadt. Sagt mein Vater.
Ich
entschuldige mich bei Birgit für
mein verschlafenes Aussehen.
„Macht
doch nichts“, lacht sie.
Dann
fragt sie mich: „Soll ich Kaffee kochen?“
„Gern“,
sage ich und verschwinde im Bad.
Als ich geduscht und mich angezogen habe, hat Birgit schon das Frühstück für meine Eltern gemacht. Beide, mein Vater und meine Mutter, sind über 90 Jahre alt. Papa ist ein halber Westfale und ein halber Rheinländer. Mama wurde in Sachsen-Anhalt geboren. In Barby.
„Barby
– wo liegt das?“, will Birgit wissen.
„Dort,
wo die kleine Saale in die
große Elbe mündet“, sagt Max. Aus
dem Bücher-Regal im Wohnzimmer holt er den Atlas und zeigt Birgit die Stelle.
Morgens und abends werden die Eltern von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der „Häuslichen Pflege“ versorgt. Heute haben Ludmilla aus Russland und Samuel aus Kenia Frühdienst. Moskau und Mombasa Hand in Hand, denke ich. Moskau ist die Hauptstadt Russlands und Mombasa die Hauptstadt Kenias. Wir wechseln ein paar Worte: Ludmilla, Samuel und ich.
Dann fällt mir ein, dass ich gleich einen Termin bei Doktor Joost habe. Also schnell: Zähne geputzt und los! Mein Zahnarzt ist Niederländer. Sein Geburtsort ist Amsterdam. „S-wierig“, sagt er nach einem Blick in meinen Mund. Aber es geht besser, als er und ich gedacht haben. Und es tut auch nicht weh. Dr. Joost klopft mir auf die Schulter. „Gut gemacht!“, sagt er. Meint er mich? Meint er sich? Egal! „Dank je wel“, sage ich zu ihm. Und: „Een goede dag!“ Und noch einmal auf Deutsch: „Dankeschön und guten Tag!“
Der
Wochenmarkt findet direkt vor unserer
Haustür statt. Als
ich beim holländischen Blumenhändler einen
Strauß Tulpen kaufen will, klopft
mir Evelin auf die Schulter. Evelin
ist Niederländerin oder Holländerin – wie
mein Zahnarzt und wie der Blumenhändler.
„Hast
du Zeit für einen Cappuccino?“, fragt
sie mich.
Ich
schaue auf die Armbanduhr. „Für
einen, ja.“
Silvio setzt sich zu uns. Er ist der Chef des italienischen Eiscafés „Palatino“. Silvio spricht gut Deutsch. Aber er freut sich, wenn wir ihn mit „Buon giorno“ begrüßen. „Buon giorno“ heißt: „Guten Tag!“ Für den Kaffee und das Eis bedanken wir uns mit einem perfekten „Grazie“. „Grazie“ heißt: „Danke!“
11.30 Uhr. Zeit für mich, nach Hause zu gehen. „Ciao, Silvio. Tschüss, Evelin!“
In unserer Wohnung hilft Max Sergej aus Sibirien, Bewerbungen zu schreiben. Vor Sergej waren Ali aus dem Irak und Elie aus dem Libanon bei ihrem alten Lehrer. Max ist aber nicht nur für seine ehemaligen Schüler der Mann „für alle Fälle“. Anträge, Bewerbungen, Steuererklärungen: Solche Sachen fallen Max nicht schwer. Und er hilft gern allen, die sich damit nicht so gut auskennen.
Birgit ist inzwischen mit ihrer Arbeit fertig. Heute hat sie auch das Mittagessen vorbereitet. Es gibt gebratenen Fisch und ostpreußischen Kartoffelsalat. Den hat schon Birgits Mutter vor dem Krieg in Danzig so gemacht.
Mittagessen mit den Eltern. Danach Zeit, die Füße hochzulegen und die Zeitung zu lesen. Um 15 Uhr will Aylin zu mir kommen. Sie geht in die zehnte Klasse der Realschule. Im letzten Zeugnis hatte sie lauter Einsen und Zweien. Nur in Deutsch hatte sie eine Vier. Das fand Aylin gar nicht gut. Sie möchte auch in Deutsch eine Zwei oder sogar eine Eins bekommen. Und das schafft sie ohne meine Hilfe nicht. Denn in ihrer Familie sprechen alle nur Türkisch miteinander.
Heute soll Aylin die Note für ihre letzte Hausarbeit erfahren. Und die will sie mir gleich mitteilen. Schließlich haben wir ein halbes Jahr gemeinsam daran gearbeitet. Kurz bevor Aylin kommt, geht Max aus dem Haus. Ein junges türkisch-russisches Ehepaar hat eine kleine Tochter bekommen. Max will gratulieren. Leider hat er vergessen, ein Geschenk zu besorgen. Ich nehme die holländischen Tulpen aus der Vase und gebe sie ihm.
Nach dem Besuch der jungen Familie hat Max noch einen Termin bei unserem Hals-Nasen-Ohren- Arzt. Doktor Ramin wurde im Iran geboren oder, wie er sagt: „in Persien.“ Wenn ich bei ihm bin und nicht zu viele Patienten im Wartezimmer sitzen, erzählt er mir ein persisches Märchen. Die Geschichte "Ali Baba und den 40 Räuber" höre ich besonders gern. Manchmal erzähle ich Doktor Ramin ein deutsches Märchen. "Die Bremer Stadtmusikanten" liebt er sehr. Vielleicht, weil darin auch Räuber vorkommen?
Als
ich Aylin die Tür öffne, fällt
sie mir um den Hals und strahlt.
„Nun
sag schon“, sage ich.
„Alles
richtig“, sagt sie. „Eine Eins!“
„Ich
gratuliere dir!“, sage ich.
„Ich
gratuliere dir!“ sagt sie.
„Wenn
du nicht gewesen wärst …“
Dann
zieht sie hinter ihrem Rücken einen Strauß
hervor: „Tulpen
aus Amsterdam. Für dich“, sagt
Aylin.
Sie hat sich gerade verabschiedet, als Max nach Hause kommt. Er bringt türkische und russische Pralinen mit. „Ein Geschenk der jungen Familie“, sagt er.
Während
Max sich „für ein Stündchen“ aufs
Sofa legt, gehe ich zu meinen Eltern. Ich erzähle
ihnen, was sich in den letzten Stunden in unserer multi-kulturellen Kleinstadt ereignet
hat.
„Was
für ein Tag, Kind!“, sagt Papa.
„Ein
fast normaler Tag, Papa“, sage ich. Dann
beuge ich mich über ihn und
gebe ihm einen Kuss auf die Stirn. Auch
Mama bekommt einen Kuss.
Danach
schüttle ich ihr Kissen auf und lege die
verrutschte Wolldecke wieder über ihre Beine.
„Das
Abendessen steht im Kühlschrank. Monika
kann es euch nachher geben.“
Schwester
Monika aus Polen hat heute
Abend Dienst.
Zurück
in unserer Wohnung, wecke ich Max. „Es
ist Zeit“, sage ich.
„Zeit
– wofür?“, murmelt er schlaftrunken.
„Die
Aufführung. Du weißt doch …“
Die Theatergruppe unseres Gymnasiums führt heute ein Stück auf, in dem es um das Zusammenleben in unserer Stadt geht, in der Menschen aus rund 90 Nationen wohnen. Die meisten, die hier geboren wurden, nennen die Stadt ihre Heimat. Andere nennen sie ihre zweite Heimat. Für die, die nicht wissen, ob sie bleiben dürfen, ist die Stadt ihre „Heimat auf Zeit“.
Max und ich sind nicht hier geboren. Aber wir leben seit fast 50 Jahren in Espelkamp. Die kleine Stadt in Nordrhein-Westfalen ist längst unsere Heimat geworden. Dass das so ist, liegt vor allem an den Menschen in dieser Stadt. Von einigen habe ich gerade erzählt.
Espelkamp hat keine lange Geschichte. Aber die kurze Geschichte hat es in sich. Dort, wo heute 25.000 Menschen leben, gab es vor 1945 fast nichts. Fast nichts – außer Wald, in den die Nazis eine Munitionsfabrik bauten. In dieser Fabrik mussten Zwangs-Arbeiter Waffen herstellen für den großen Krieg, den man heute den Zweiten Weltkrieg nennt.
Nach dem Krieg kamen Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten hierher: aus Pommern, Ostpreußen und Schlesien. Später kamen Gastarbeiter aus Italien, Griechenland und der Türkei. Und es kamen Spätaussiedler: Russland-Deutsche aus der Sowjetunion, Deutsche aus Südamerika. Zum Beispiel Birgit aus U-ru-gu-ay. Und noch später kamen wieder Flüchtlinge und Vertriebene. Diesmal aus vielen, vielen Ländern. Zuletzt kamen die Flüchtlinge aus der Ukraine.
Das Theaterstück hat den Titel: „Ein fast normaler Tag“. Mustafa aus dem Libanon und Besrat aus Äthiopien spielen ein Liebespaar. Besrat kam als Kleinkind mit ihren Eltern und ihren drei Brüdern hierher. Jetzt steht „unsere Kleine“, wie Max sie nennt, kurz vor dem Abitur.
„Ich
habe kein Geschenk für Besrat“, sagt
er in der Pause.
„Dann
hol schnell den Tulpenstrauß!“, schlage
ich ihm vor.
„Den
habe ich doch den russisch-türkischen Eltern geschenkt.“
„Den meine
ich doch nicht, Max. Aylin hat
mir heute Nachmittag einen neuen
Strauß Tulpen mitgebracht.“
Gelbe Tulpen aus Amsterdam für ein Mädchen aus Addis Abeba am Ende eines fast normalen Tages.
Der ist aber noch nicht ganz zu Ende. Max lädt mich zum Ausklang in unsere kroatische Hauskneipe ein. Kurz vor Mitternacht sagen wir zu Marija und Josef, dem Gastwirts-Ehepaar: „Lacu nóc“. Das heißt auf Deutsch: „Gute Nacht!“