Nellys Lied Vorlesen

02. Feb 2024Almut Anders
Die Kunst der Einfachheit - Stimmt mit ab!, Bild: Hardy Kuttner

Nelly lebt auf einer Insel mitten im Ozean. Ihre Augen sind grün wie die Algen, die das Meer an den Strand spült. Ihre Haare sind dunkel wie eine sternlose Nacht. Aber das Schönste an Nelly ist ihre Stimme. Ihr Gesang ist hell und klar wie ein Frühlingstag mit Wind und Wolken am blauen Himmel.

Auf der Insel leben nur wenige Menschen. Am Hafen gibt es ein Lebensmittel-Geschäft, eine Kirche und eine Kneipe. Das ist alles. Hier ist jeder Tag wie der andere. Nie passiert etwas Aufregendes. Und bisher fand Nelly das ganz in Ordnung. Bis vor kurzem war Nelly glücklich auf ihrer Insel mitten im Ozean.

Doch dann sah Nelly eine Oper im Fernsehen. Die Sängerin war schön wie eine Prinzessin. Sie trug ein langes Kleid mit einer Schleppe und ihr Mund war blutrot geschminkt. Ihr Gesang nahm Nelly den Atem. Seit diesem Tag träumt Nelly davon, Opernsängerin zu werden.

Die Frauen auf der Insel schminken sich nicht. Sie putzen und kochen und jammern über die Preise. Nie tragen sie ein buntes Kleid. Immer nur geblümte Schürzen. Die Blumen auf den Schürzen sind schon ganz blass vom vielen Waschen.

Die Männer sind Fischer. Sie fahren mit ihren Booten hinaus aufs Meer. Meistens sind ihre Netze leer. Abends sitzen sie in der Hafenkneipe und trinken Bier. Sie schimpfen über die großen Fisch-Konzerne. Die fangen unsere Fische weg, sagen sie. Die Männer wissen nicht, was sie dagegen tun können. Niemand hilft den Leuten auf der Insel. Sie haben nur sich selbst.

Nelly will anders leben. Sie will keine blasse Blumenschürze wie ihre Mutter. Sie will keine stille Wut im Bauch wie ihr Vater. Sie will Opernsängerin werden mit schönen Kleidern und geschminkten Lippen. Sie will berühmt sein und viel Geld verdienen. Morgen wird sie 18. Morgen nimmt sie die Fähre. Morgen geht sie weg von der Insel.

Nelly hat keinem davon erzählt. Nicht einmal Ronja, ihrer besten Freundin. Früher haben sie Muscheln und Steine am Strand gesammelt. Sie sind auf den Felsen geklettert und haben eine Höhle entdeckt. Dort haben sie ihre Schätze versteckt und sich alles voneinander erzählt.

Vor ein paar Monaten waren sie zum letzten Mal in der Höhle. Es regnete und der Himmel war grau. Vielleicht gehe ich weg von der Insel, sagte Nelly. Ronja machte große Augen. Warum, fragte sie. Ich möchte Opernsängerin werden, sagte Nelly. Kommst du mit mir in die Stadt? Ronja lächelte. Vielleicht, sagte sie.

Aber letzte Woche hat Ronja einen Fischer geheiratet. Und was wird aus mir, fragte Nelly. Ach, du mit deinen Träumen, sagte Ronja. Ich weiß wenigstens, wo ich hingehöre.

Wohin gehöre ich, fragt Nelly den Wind. Sonst ist keiner da, den sie fragen kann. Sie klettert ein letztes Mal über die Felsen hinauf zur Höhle. In ihrem alten Versteck sucht Nelly die hellblaue Muschel. Es ist die schönste Muschel, die sie besitzt. Sie schillert zartblau wie der Winterhimmel über dem Meer. Ronja hat sie ihr geschenkt. Nelly steckt die Muschel in ihre Tasche.

Am nächsten Morgen nimmt Nelly die Fähre. Es ist Herbst, die Luft ist frisch und das Meer stürmisch. Nelly steht an Deck und sieht, wie die Insel langsam im Nebel verschwindet. Sie schließt die Augen und stellt sich vor, wie sie auf der Bühne steht. Ihr schwarzes Haar glänzt im Scheinwerferlicht. Sie trägt ein langes Kleid mit Glitzer-Pailletten. Sie singt und das Publikum applaudiert. Lieder kennt sie mehr als genug. Ihre Großmutter hat sie ihr vorgesungen. Mit diesen Liedern wird sie bestimmt berühmt. Da ist sich Nelly ganz sicher.

Die Fähre legt am Hafen an. Es wird langsam dunkel. Es regnet und die Lichter glitzern auf dem Asphalt. Nelly ist wie verzaubert. Genau so hat sie sich die große Stadt immer vorgestellt. Sie findet ein kleines Hotel, legt sich ins Bett und schläft sofort ein.

Am nächsten Morgen frühstückt Nelly in einem Café. Sie fragt die Kellnerin nach der Oper. Die junge Frau schreibt die Adresse auf eine Serviette.

Die Oper ist am anderen Ende der Stadt. Nelly fährt mit der U-Bahn. Zuerst fürchtet sie sich ein bisschen so tief unter der Erde. Der Waggon schlingert hin und her. Wenn die U-Bahn hält, quietschen die Bremsen so laut, dass Nelly Zahnschmerzen kriegt. Doch nach ein paar Stationen macht es ihr Spaß, so schnell unter der Stadt hindurch zu fahren. Die Oper ist gleich neben der U-Bahn. Am Eingang sitzt ein Pförtner. Wo wollen Sie denn hin, junges Fräulein?, fragt er. Ich möchte Opernsängerin werden, sagt Nelly. Der Pförtner lacht. Na klar. Aber vorher müssen Sie eine Prüfung machen. Der nächste Termin ist im Mai, sagt er. Er gibt Nelly ein Anmeldeformular. Das ist aber ziemlich lange hin, sagt Nelly. Ach was, die Zeit fliegt schneller als ein Vogel, sagt der Pförtner und zwinkert Nelly zu.

Nelly hat nur Geld für zwei Wochen. Sie braucht einen neuen Plan. Sie geht in das Café, wo sie gefrühstückt hat. Wissen Sie einen Job für mich, fragt sie die nette Kellnerin. Die nickt. Du kannst hier arbeiten, sagt sie. Übrigens, ich heiße Kim.

Der Job im Café macht Nelly Spaß. Die Gäste sind nett und geben ihr Trinkgeld. Sie darf so viel Kuchen essen, wie sie will. Sie mietet ein kleines Zimmer im selben Haus wie Kim. Einmal gehen sie zusammen in die Oper. Nelly ist begeistert. In echt ist es noch viel schöner als im Fernsehen.

Als Opernsängerin muss man nach Noten singen, sagt Kim auf dem Heimweg. Du brauchst eine Ausbildung. Deshalb nimmt Nelly Gesangs-Unterricht in der Musikschule.

Die Zeit ist wirklich wie ein Vogel. Sie fliegt nur so dahin. Der Winter kommt. Weihnachten ist vorbei. Der Schnee schmilzt. Die Tage werden länger, die ersten Blumen blühen und plötzlich ist es Mai. Nelly kauft sich ein grünes Kleid und hochhackige Schuhe. Sie geht vor dem Spiegel auf und ab. Wow, du siehst toll aus, sagt Kim. Ich sehe gar nicht aus wie ich, sagt Nelly. Viele junge Frauen sind zum Vorsingen in der Oper. Nelly muss im Flur warten. Endlich ist sie an der Reihe. Sie steigt hinauf zur Bühne. Der Klavierspieler gibt den Einsatz. Nelly hält Ronjas Muschel fest in ihrer Hand. Sie atmet tief in den Bauch, wie sie es in der Musikschule gelernt hat. Ihre Stimme springt hell und klar aus dem Mund wie ein silberner Fisch bei Flut. Die Töne steigen hoch bis unter die Decke und bringen die Luft zum Schwingen.

Die Prüfer gucken streng und machen sich Notizen. Es gibt keine Scheinwerfer. Es gibt keinen Applaus. Niemand lächelt. Nelly verbeugt sich trotzdem. Danke. Sie hören von uns, sagt eine Prüferin.

Nelly wartet auf den Brief von der Oper. Nach zwei Wochen kommt endlich eine Nachricht. Nelly traut sich nicht, den Brief zu öffnen. Sie geht rüber zu Kim. Mach du ihn auf, sagt sie. Kim reißt den Umschlag auf und liest den Brief. Dann schüttelt sie den Kopf. Tut mir leid, sagt sie. Am nächsten Morgen sind Nellys Augen rot vom Weinen. Ihr Herz ist schwer wie ein Stein. Sie ruft bei der Arbeit an und meldet sich krank.

Nelly läuft durch die Straßen der großen Stadt. Zum ersten Mal hat sie Heimweh. Sie sehnt sich nach ihren Eltern. Sie sehnt sich nach dem Ozean. Sie sehnt sich nach dem Rauschen der Brandung und dem feuchten Sand unter ihren Füßen. Sie sehnt sich nach Ronja und der Höhle im Fels hoch über dem Meer.

Nelly läuft bis zur großen Brücke. Breit fließt der Fluss unter ihr dahin. Nelly beugt sich über das Geländer. Das Meer ist weit weg, doch die Luft schmeckt ein bisschen nach Salz. Nelly schließt die Augen und singt das Lied vom Wind. Es ist das Lieblingslied ihrer Großmutter. Das Lied erzählt vom Nordwind und vom Südwind und wie sie sich auf dem Meer begegnen und ineinander verlieben. Eine Frau bleibt bei Nelly stehen und hört ihr zu.

Nelly bemerkt es nicht. Sie singt alle Lieder ihrer Großmutter, die sie kennt. Beim Singen wird ihr Herz leicht. Nelly singt auch von den Frauen, die nie ein buntes Kleid tragen. Sie singt von der Wut der Männer über das leergefischte Meer. Sie singt von ihrer Freundschaft zu Ronja und von der schillernden blauen Muschel. Sie singt von ihrem Traum, Opernsängerin zu werden und ihrem Schmerz über die Absage. Immer mehr Leute bleiben stehen und lauschen Nellys Gesang.

Der Wind trägt Nellys Lied hinauf in den Himmel und über das Meer bis zur Insel und wieder zurück zur Brücke über dem Fluss. Als Nelly den Mund schließt und ihre Augen öffnet, weiß sie genau, wo sie hingehört. Sie hat ihr eigenes Lied gefunden. Und dieses Lied ist jetzt ihre Heimat.

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7Kommentare

  • Uli
    02.02.2024 18:18 Uhr

    Wunderschön!

  • Gabi
    03.02.2024 09:01 Uhr

    wunderschön!

  • Romy
    03.02.2024 20:38 Uhr

    Nellys Geschichte ist sehr berührend. ❤️

  • Belen
    03.02.2024 21:20 Uhr

    Tolle Geschichte!

  • DreaLa
    09.02.2024 00:47 Uhr

    Welch schöne Idee... und so poetisch geschrieben

  • Karo
    11.02.2024 22:12 Uhr

    Was für eine schöne Geschichte!

  • Helga
    12.02.2024 21:29 Uhr

    Sehr berührend!

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