Erika, die Puppe und das Lächeln Vorlesen

24. Jan 2024Andrea Behnke
Die Kunst der Einfachheit 2023 - Stimmt mit ab! Bild: Hardy Kuttner

Es ist lange her. Sehr lange. Doch Erika wird nie vergessen. Kann nie vergessen. Der Weg ist ein Teil von ihr. Der lange Weg. Der kalte Weg. Auch heute denkt sie wieder an das, was war. An das, was sie erlebt hat.

Sie denkt nach und ist wieder das Kind von damals. Ein Mädchen mit geflochtenen Zöpfen. Sie mag Fangenspielen. Und Verstecken. So lange, bis sie wirklich weglaufen muss. Und sich verstecken.

Sie liebt ihre Puppe. Die heißt Kitty. Wie ihre Oma. Ihre Oma hat ihr die Puppe geschenkt. Eine Puppe mit einem Kleid. So bunt wie eine Sommerwiese. Erika spielt gerne mit Kitty. Sie spielt mit Kitty im Schnee. Sie baut mit Kitty einen Schneemann. Erika friert. Kitty friert nie.

Kitty friert auch nicht, als die Männer kommen. Die Männer, die sie fortjagen. Weil Krieg ist. Die Männer, vor denen Erika und ihre Mutter sich verstecken. Weil sie Angst haben. Kitty steht auf dem Stuhl und lächelt.

Erika will Kitty mitnehmen, auf den langen Weg. Kitty und ihr Lächeln. Kitty soll mitkommen zu dem neuen Zuhause. Doch ihre Mutter sagt: „Nein.“ Das versteht Erika nicht.

Die Mutter sagt: „Kitty ist zu groß. Sie muss hierbleiben.“

Die Mutter packt einen Koffer. Und Erika bekommt einen kleinen Rucksack.
Den hat die Mutter aus einem alten Rock genäht. Mehr können sie nicht tragen.
„Nur das, was in den Koffer und in den Rucksack passt“, sagt die Mutter.

Sie zieht Erika ganz viel übereinander an. Ein Unterhemd aus Wolle. Eine Bluse.
Einen Pulli. Eine Strickjacke. Einen Mantel. Erika friert immer noch. Kitty friert nie.

Als Erikas Mutter wegschaut, geht Erika an ihren Rucksack. Sie macht ihn auf.
Und sie zieht ein Handtuch heraus. Schnell steckt sie ihre Puppe in den Rucksack.
Ihre Puppe Kitty.

An dem Tag, als sie wegmüssen, schneit es. Erika und die Mutter gehen los. Die Schneeflocken tanzen in der Luft. Erika zittert. Kitty hat es warm. So lange, bis Erikas Mutter Handschuhe aus dem Rucksack holen will. Aus dem Rucksack, in dem Kitty ist. Und nicht das Handtuch.

Erikas Mutter hält Kitty hoch. Sie schimpft. Und tobt. Weil Erika nicht auf sie gehört hat. Erika hält sich die Ohren zu. Tränen laufen ihr übers Gesicht. Die Tränen sind heiß auf der kalten Haut. Die Mutter atmet tief durch. Sie zieht Erika die Handschuhe an. Und sagt nichts.

Die beiden laufen weiter. Und die Mutter sagt immer noch nichts.

Es wird dunkel. Es wird noch kälter. Erika und die Mutter schlafen in einem Stall.
Mit vielen, vielen Menschen. Erika traut sich nicht, Kitty aus dem Rucksack zu holen. Aber ohne Kitty kann sie nicht einschlafen. Erika will sich an ihre Mutter kuscheln. Doch die ist immer noch stumm. So bleibt Erika wach.

Die Mutter starrt lange an die Wand. Und Erika auch. Irgendwann legt die Mutter den Arm um Erika. Sie drückt Erika an sich. „Es ist gerade sehr schwer“, sagt sie.
Da holt Erika die Puppe aus dem Rucksack. Kitty kann die Augen nicht schließen. Kitty ist immer wach. Sie wacht immer. Erika schläft irgendwann ein. Sie träumt schlecht. Als sie aufwacht, friert sie noch mehr. Aber Kitty lächelt sie an.

Dann geht es weiter. Immer weiter. Immer weiter fort vom Garten mit den Verstecken. Mit den Büschen, die im Frühling blühen. Und den Blumen, die im Sommer riechen. Und den Blättern, die im Herbst fallen. Und den Bäumen, die im Winter weiß werden.

Die Füße tun weh. Erika spürt sie kaum noch. Die Mutter zieht ihr Socken an. Über die Schuhe.

Irgendwann, nach Stunden und Tagen, kommen sie an einem Hafen an. Dort wartet ein Schiff. Das Schiff ist voll. Viel zu voll.

Erika weint. Weil sie weint, dürfen sie und ihre Mutter doch noch auf das Schiff. Erika weint immer noch. Auf dem Schiff ist es so eng. Alle können nur stehen. Und Erikas Füße tun weh. Und ihre Augen sind schwer. Nur Kitty, die Puppe, hat offene Augen. Und lächelt. Kitty friert nie. Auch jetzt nicht.

Erika löffelt Suppe. Aus einer kleinen Kaffeetasse. Eigentlich wärmt Suppe. Aber diese Suppe ist nicht heiß. Und sie ist dünn wie Wasser. So schmeckt sie auch. Wie Wasser. Die Suppe schwappt im Magen. Hin und her. Und hin und her. Denn das Schiff wackelt. Hin und her. Und hin und her.

Das Schiff wackelt bis zum anderen Ufer. Dort steigen alle aus. Die Schlaflosen.

Dann geht es weiter mit einem Zug. Immer weiter. Mit hungrigem Magen. Und mit schweren Augen.

Erika sackt zusammen. Sie sitzt auf dem Boden im Zug und schläft ein. Endlich schläft sie ein.

Als sie aufwacht, ist ihre Mutter nicht da. Nur Kitty sitzt neben ihr. Kitty passt auf. Mit offenen Augen.

Erika ist erschrocken. Sofort ist sie hellwach. Sie springt auf. Sie drängt sich zwischen den vielen Menschen hindurch. Sie sieht nur Beine. Viele Beine von vielen Menschen. Nur Erika ist alleine. Fühlt sich einsam und verloren. Ohne ihre Mutter.

Sie kann nichts mehr denken. Sie hat Angst. Zwischen all den fremden Beinen von den vielen fremden Menschen. Auf einmal entdeckt sie braune Stiefel. Mit hellen Schnürsenkeln. Darin steckt Erikas Mutter. Es sind ihre Stiefel. Erikas Mutter ist da!

Sie hat sich an die Wand gelehnt, um wachzubleiben. Sie musste sich anlehnen. Sonst wäre sie umgekippt und eingeschlafen. Doch die Mutter will nicht einschlafen. Sie will aufpassen. Mit offenen Augen. Wie Kitty, die Puppe. Obwohl der Mutter die Augen fast zufallen.

Erika nimmt ihre Mutter an die Hand. Zusammen gehen sie vorbei an den vielen Menschen. Zurück zu Erikas Rucksack und zu Kitty.

Der Rucksack steht noch da. Doch die Puppe sitzt nicht mehr auf dem Boden. Sie ist weg. Erika ruft: „Meine Puppe!“ Die Mutter umarmt Erika. Erika weint. Der ganze Körper wird durchgeschüttelt. Ohne Kitty kann Erika nicht schlafen. Nie mehr kann sie schlafen.

An einem Bahnhof hält der Zug. Nette Menschen reichen Brote durch die Fenster. Brote mit echter Butter. Butterbrote, die Erika so mag. Doch Erika möchte nicht essen. Ohne Kitty kann sie nicht essen. Sie hat keinen Hunger.

„Die Butter zergeht auf der Zunge“, sagt die Mutter. Und: „Du musst essen“, sagt sie. Aber Erika kann nicht. Nie mehr wird sie essen. Die Mutter steckt das Brot in Erikas Rucksack.

Es ruckelt. Es ruckelt beim Weiterfahren. Es ruckelt beim Halten. Aber das ist Erika egal. Ohne Kitty ist ihr alles egal.

Endstation. Hier geht es nicht weiter. Alle müssen aussteigen. Erika mit ihrer Mutter. Erika ohne Kitty. Erika und die vielen, vielen anderen Menschen. Es sind vor allem Frauen und Kinder. Frauen wie Erikas Mutter und Kinder wie Erika.

Auf dem Bahnsteig kommt ein Mann zu Erika. Er sagt: „Ich habe eine Puppe gefunden. Ich schenke sie dir.“ Der Mann hält eine Puppe hoch.

Kitty! Es ist tatsächlich Kitty. Erikas Puppe. Der Mann hat Kitty gefunden.
Erika drückt Kitty ganz fest an sich. Nie mehr will sie ihre Puppe wieder loslassen.

„Jetzt habe ich Hunger“, sagt Erika. Ihre Mutter reicht ihr das Butterbrot. Die Butter ist so lecker. Das Brot füllt das Loch im Bauch. Das Hungerloch.

Wieder geht es zu Fuß weiter. Die Beine sind so schwer wie die Augen. Auch Kitty ist auf einmal schwer. Die große Puppe. Doch Kittys Lächeln ist leicht wie eine Feder.

Es dauert, bis Erika und ihre Mutter ankommen. Erst in einem Lager für Menschen, die weggehen mussten. Fort aus ihrer Heimat. Fort aus ihrem Haus. Ihrem Zuhause. Fort aus dem Garten mit den Blumen, den Büschen, den Bäumen. Weit weg. In ein Dorf, das Erika und ihre Mutter nicht kennen.

Später wohnen Erika und die Mutter in diesem Dorf auf einem Bauernhof. In einem kleinen Zimmer. Zusammen sind sie in einem Raum. Niemand freut sich, dass sie da sind.

Aber die Männer sind nicht mehr hinter ihnen her. Der Krieg ist vorbei.

Die erste Nacht in einem Bett aus Stroh. Nur Erika und ihre Mutter. Die vielen anderen Menschen schlafen in anderen Betten aus Stroh. In anderen Zimmern. Die erste Nacht seit langem, in der Erika sofort einschläft. Erika hat eine Decke. Endlich friert sie nicht mehr. In dieser Nacht träumt Erika gar nicht. Kitty liegt neben ihr. Mit offenen Augen. Kitty friert nie.

Das alles ist lange her. Sehr lange. Doch Erika wird nie vergessen. Kann nie vergessen. Der Weg ist ein Teil von ihr. Der lange Weg. Der kalte Weg.

Heute ist Erika eine alte Frau. Eine sehr alte Frau. Auf ihrem Sessel sitzt eine Puppe. Seit all den vielen Jahren sitzt dort eine Puppe. Es ist Kitty. Kitty lächelt.

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7Kommentare

  • Lara
    24.01.2024 10:25 Uhr

    Da musste ich ein Tränchen verdrücken. Gefällt mir sehr!

  • Madlen
    24.01.2024 11:25 Uhr

    Ein wichtiger Text. Ein berührender Text. Ein wunderschön geschriebener Text. Fast wie ein Gedicht. Danke.

  • Inge
    24.01.2024 14:04 Uhr

    Ich habe diesen anrührenden, eindringlichen Text sehr gerne gelesen. Er wirkt nach. Trotz der einfachen Sprache ist er wunderbar poetisch und mit einem liebevollen Blick auf die Figuren geschrieben. Und obwohl er erkennbar gegen Ende des 2. Weltkriegs spielt, ist er ganz und gar aktuell angesichts der Kriege, die auch jetzt wieder so viele Menschen erleiden müssen oder die sie zwingen, ihre Heimat zu verlassen.
    Gerne würde ich noch mehr von Erika lesen.

  • Delia
    24.01.2024 15:53 Uhr

    Hier stimmt alles: Inhalt, Textaufbau und Sprachmelodie. Sehr prägnant, bleibt im besten Sinne im Kopf!

  • Marion
    25.01.2024 23:23 Uhr

    Ich fühlte sofort mit dem Kind Erika. als meine Mutter 1945 Uhr Elternhaus in kurzer Zeit verlassen musste, hat sie als erstes ihre Puppen und ihren Bär gerettet, der Bär war ihr ganzes Leben bei ihr. In den letzen Jahren hat er wie Kitty über sie gewacht.

  • Gisi
    25.01.2024 23:33 Uhr

    ❤️❤️❤️

  • Gisi
    25.01.2024 23:34 Uhr

    ❤️❤️❤️

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