Ein Dienstag am Strand Vorlesen

19. Jan 2024Constanze Geertz
Die Kunst der Einfachheit 2023 - Stimmt mit ab! Bild: Hardy Kuttner

Ein Dienstag am Strand, Marisol hat frei. Aber es fühlt sich nicht an wie ein freier Tag. Seit Stunden sitzt sie in ihrer neuen Regenjacke am Strand, etwas abseits von der Bade-Zone, und schaut auf die Wellen. Über ihr kreischen die Möwen im Wind. Der Himmel ist ebenso grau wie das Meer. Nur hier und da gibt es ein paar kleine Inseln aus Licht. Noch regnet es nicht. Noch sind ein paar mutige Schwimmer im Wasser.

Vorne an der Wasser-Linie laufen Vögel mit roten Schnäbeln und roten Beinen eilig hin und her. Ihre Laute klingen wie eine Warnung. Marisol kennt nicht einmal ihren Namen. Obwohl sie immer dachte, dass sie alle Tiere und Pflanzen am Meer kennt. Ihr Vater mit seiner unendlichen Geduld hat ihr alles beigebracht. Nur ist das hier eben ein anderes Meer als das Meer zuhause. 

An einem freien Tag sollte man doch Tanzen gehen oder ins Kino oder wenigstens zu den Nachbarn, denkt sie. 

Das alles geht hier auf der Insel nicht. Zumindest nicht für sie. Sie gräbt ihre Finger ins Bade-Tuch. Es ist das blaue Bade-Tuch ihrer Familie. Damit waren sie jede Woche am Strand, alle zusammen. Es war immer ein Fest. Mit Essen und Trinken und Lachen und Freude am Leben und aneinander. Ihre Mutter hat ihr das Bade-Tuch geschenkt. Zum Abschied. 

Für einen allein ist es viel zu groß. Wenn sie hier mit diesem dicken Handtuch-Wulst zum Strand geht, schauen sie alle an und Marisol wird verlegen. Trotzdem ist das Bade-Tuch praktisch, denn man kann es doppelt nehmen. Hier ist der Sand oft feucht.

In der Ferne sieht sie Imke, die Tochter ihres Chefs. Marisol mag sie gern. Imke ist nur ein paar Jahre jünger als sie, vielleicht 17 oder 18 Jahre alt. Sie hat immer ein freundliches Wort für Marisol. Imke ist einer der wenigen Menschen hier, die Marisol mit ihrem richtigen Namen ansprechen. Für die meisten ist sie einfach nur „das Zimmermädchen“ oder „die Kleine mit den Locken“ oder noch schlimmer „die Spanierin“. Dabei ist Spanien fast genauso weit weg von ihrer Heimat wie Deutschland. 

Was Marisol nicht mag, das sind Imkes Vorschläge. Sie meint es sicher gut. Aber Imke hat noch nicht viel Ahnung vom Leben.

Imke winkt und kommt auf sie zu. „Na du“, sagt sie. „Was machst du denn hier, so ganz allein?“ Sie wartet keine Antwort ab. Sie setzt sich einfach neben Marisol aufs Bade-Tuch und reicht ihr die Hälfte ihres Fisch-Brötchens. Marisol hat gar nicht gemerkt, wie hungrig sie war. Jetzt isst sie mit großem Appetit. Sie mag diese Fischbrötchen. Auch wenn sie ganz anders schmecken als der Fisch zu Hause. 

Imke lacht und gibt ihr auch noch die andere Hälfte. „Du wirst dich schon noch an den Norden gewöhnen. Glaub‘s mir. Wer Fischbrötchen mag, der ist hier richtig.“ 

Nach dem Essen ist Marisol müde. Sie legt sich hin. Imke auch. Sie liegen nebeneinander auf dem Rücken und schauen in die grauen Wolken. Der Wind streicht ihnen durchs Gesicht. Manchmal hören sie einander atmen. Das alles fühlt sich gut an, vertraut. 

„Du bist wirklich nett“, sagt Imke nach einer Weile. Sie sagt es einfach so, ganz ohne Einleitung. Marisol wird rot. „Aber weißt du, was ich nicht verstehe an dir? Dass du immer bloß hier rumsitzt an deinen freien Tagen! Warum unternimmst du nie was? Warum fährst du nicht einfach mal rüber aufs Festland? Party, einkaufen, neue Leute kennenlernen, einfach mal was anderes sehen …“ 

Da sind sie wieder, die Vorschläge von Imke. Marisol weiß nicht, was sie antworten soll. Sie zeigt auf einen Vogel und fragt nach seinem Namen. 

„Lenk nicht ab!“ antwortet Imke. Sie hat sich auf die Seite gedreht. Sie stützt sich auf ihren Arm und sieht Marisol direkt ins Gesicht. 

Marisol zuckt mit den Schultern. Am liebsten würde sie zurückfragen: Weißt du, was ich verdiene? Weißt du, was allein diese Regenjacke gekostet hat? Weißt du, was die Überfahrt kostet und wie lange ich dafür arbeiten muss? 

Aber solche Dinge versteht Imke nicht. Vielleicht rennt sie sogar zu ihren Eltern und fordert einen besseren Lohn für Marisol. Imke denkt immer, dass es für alles eine einfache Lösung gibt. Kein Wunder, ihre Eltern sind reich. 

Deshalb geht Imke noch zur Schule und putzt nicht die Zimmer fremder Ferien-Gäste. 

Weil sie irgendwas sagen muss, antwortet Marisol: „Was soll ich auf dem Festland? Ich kann noch nicht genug Deutsch. Ich versteh doch da so wenig wie hier!“ 

Imke wischt den Einwand mit einer Hand-Bewegung beiseite. „Ach was, zum Tanzen braucht man kein Deutsch. Außerdem hast du schon so viel gelernt, das ist doch ein Klacks für dich. Du musst es nur endlich mal nutzen!“

 „Klacks“ wiederholt Marisol leise. Schon wieder so ein Wort. Ein Wort, das sie noch nie gehört hat. Imke knufft sie in die Seite. Sie zeigt auf einen kleinen Soßen-Fleck an ihrem Schuh. Marisol war der Fleck noch gar nicht aufgefallen. Sie hofft, dass er rausgeht. Denn sie hat nur zwei Paar Schuhe.

 „Guck, das da ist ein Klacks“, sagt Imke. „Ein Klacks ist gar nichts, nicht erwähnens-wert, nichts, wo man lange nachdenken muss. Heute ist es zu spät. Das letzte Schiff legt gleich ab. Aber nächste Woche kommst du mit, versprochen?“

Marisol zögert. Ihr geht das alles viel zu schnell. Sie denkt an ihren Vater. „Du kannst alles machen“, hat er immer gesagt. „Nur eins nicht: Du darfst nie ein Versprechen brechen. Ganz egal, wie klein es scheint. Ein Versprechen ist immer heilig.“

Aber Imke lässt ihr gar keine Wahl. Sie legt einfach Marisols Hand in ihre, drückt sie ganz fest. Dann sagt sie „Also abgemacht. Nächste Woche. Mit dem ersten Schiff hin. Mit dem letzten Schiff zurück. Ich freu mich drauf!“

Jetzt ist es also entschieden. Marisol wird nächste Woche mitfahren aufs Festland. Sie wird versuchen, es zu genießen. Und nicht zu lange über das Geld nachzudenken. Das wird das Schwierigste. Ihren Eltern kann sie dann nicht so viel Geld schicken wie sonst. Sie werden es verstehen, hoffentlich.

Auf einmal spürt sie den Wind nicht mehr. Auch Imke hat es gemerkt. Sie setzt sich auf und dreht sich zur anderen Seite. 

Da steht ein Freund von Imke. Direkt neben ihnen. Er gibt ihnen Windschatten. Marisol hat ihn nur ein paar Mal gesehen. Sie kennt nicht mal seinen Namen.

Er zieht Imke hoch und legt den Arm um ihre Hüfte. „Mit der hängst du also ab?“ fragt er Imke. Er zeigt auf Marisol. „Die ist doch hundert Prozent lost.“ 

Er spricht über Marisol, als wäre sie gar nicht da. Leider spricht Marisol gut englisch. Sie weiß, dass „lost“ „verloren“ heißt. „Verloren“, „hinüber“, sogar „tot“ kann es heißen. 

Erst als Imke ihre Augen-Brauen zusammenzieht, bemerkt der Freund seinen Fehler. Er wendet sich an Marisol.

„Sorry. Aber ist doch wahr“, sagt er. „Ich hab dich noch nie lachen sehen. Dachte immer, ihr seid Party-Leute, ihr Süd-Amerikaner. Aber bei dir: nichts, niente.“ 

Gleich darauf hat er Marisol offenbar wieder vergessen. Wieder zählt nur Imke für ihn.

„Ich treff mich mit den anderen. Auf ein Bier am Boots-Haus. Gleich, wenn die Bade-Zeit rum ist. Kommste mit?“ fragt er. 

Imke schüttelt den Kopf. „Lass mich. Ich komm nach. Vielleicht.“ Sie schiebt seine Hand von ihrer Hüfte und legt sich wieder neben Marisol.

„Niente ist italienisch“, sagt Marisol, als der Freund weg ist. „Das hat mit mir nichts zu tun.“ 

Imke seufzt. „Ich weiß. Es tut mir leid. Eigentlich ist er gar nicht so. Überhaupt nicht.“

„Du liebst ihn, oder?“, fragt Marisol. Imke schweigt. Aber ihre Unruhe verrät alles.

„Geh ruhig“, sagt Marisol. Imke lächelt sie dankbar an, umarmt sie schnell und läuft dem Freund hinterher.

Marisol sieht ihr nach. Wie jung Imke doch ist, denkt sie. Wie viel doch ein paar Jahre ausmachen. 

Mit einem Mal fühlt sich Marisol richtig alt. Uralt und lost. Jetzt hat sie auch keine Lust mehr. Sie will hier nicht alleine rumliegen. Außerdem wird es kalt, richtig kalt. Obwohl der Wind nachgelassen hat. 

Sie steht auf und legt das Bade-Tuch zusammen. Früher haben sie das immer zu viert gemacht. Jeder an einer Ecke. Das war ein Ritual in ihrer Familie, eine feste Gewohnheit. Das heißt, das ist es sicher immer noch. Nur, dass Marisol jetzt nicht mehr dabei ist. 

Was für ein verrückter Tag. Sogar das Wetter ist verrückt. Die Wolken sind jetzt fast schwarz. Nur ihre Ränder sind hell. Sie blenden geradezu. Marisol sieht noch einmal aufs Meer hinaus. Dann lässt sie das Bade-Tuch fallen. 

Sie rennt. So schnell wie sie kann. Denn Marisol kann das Meer lesen. Und das, was sie da sieht, gefällt ihr gar nicht. Sie kennt zwar dieses Meer noch nicht gut. Aber eins weiß sie: Wenn die Wellen auf einmal ganz gleichmäßige Muster formen, und wenn dann auch noch ein Vater mit seinem Kind im Wasser ist, dann geht es um Leben und Tod. 

Aus dem Augen-Winkel sieht sie, dass auch die Rettungs-Schwimmer vom Strand nebenan loslaufen. Marisol ist näher dran. Sie wird vor ihnen ankommen. Vielleicht noch rechtzeitig. Der Vater schreit. Das Kind geht unter. Er kann es nicht festhalten. Das Kind taucht wieder auf. Noch weiter weg vom Vater. 

Marisol wirft sich ins Wasser. Sie ist eine sehr gute Schwimmerin. Das hat sie von ihrem Vater. Sie schaffte es. Sie findet das Kind noch, bevor es verloren ist. Um den Vater müssen sich die Rettungs-Schwimmer kümmern. Das schafft sie nicht. Zwei, das geht einfach nicht. Wenigstens das Kind, denkt sie.

Es hängt in ihrem Arm. Auch sie muss jetzt sehr kämpfen gegen die Wellen. Aber sie schafft es. 

Am Strand bricht sie zusammen. Es ist alles zu viel.

Zum Glück sind die Rettungs-Schwimmer jetzt da. Das kleine Mädchen ist ganz kalt. Sie nehmen es Marisol ab. Auch ihr legen sie eine Decke um. Marisol zittert vor Erschöpfung und Aufregung und Kälte. Ein Rettungs-Schwimmer klopft ihr auf die Schulter. „Bravo“, sagt er und „Wahnsinn!“.

Erst jetzt traut sich Marisol, wieder aufs Meer hinaus zu sehen. Gott sei Dank! Da sind jetzt so viele. Sogar ein Boot haben sie. Und ja, auch der Vater. Der Vater sitzt schon im Boot. Sie haben ihn gerettet.

Sie schaut wieder nach dem Kind. Nein, es ist nicht tot. Es hat eine Chance. So klein ist es auch gar nicht. Vom Strand aus gesehen schien es so winzig. Halt durch, denkt Marisol, bitte halt durch. 

Zwei Rettungs-Wagen kommen. Wie gut hier alles organisiert ist. Für Marisol kommt ein Klein-Bus. Es ist so wunderbar warm darin. Sie wird zur Wache der Rettungs-Schwimmer gebracht. Ein Sanitäter untersucht sie. Er ist zufrieden. Ihr ist nichts passiert. Nur die Aufregung, der Kreislauf. „Natürlich“, sagt der Sanitäter, „nach so einer Helden-Tat“. Von allen Seiten kommen Glück-Wünsche. „Ohne dich wäre das Mädchen tot“, sagen sie. „Du kannst sofort bei uns anfangen. Wenn du willst. Unfassbar, so eine Schwimmerin!“ 

Da sieht sie auf einmal ein vertrautes Gesicht. Imke legt ihr die Hand auf die Wange. Genau so, wie es früher immer die Mutter von Marisol gemacht hat. Marisol zittert wieder ein bisschen. Der Freund von Imke steht verlegen im Hinter-Grund. Er klammert sich an seine Bier-Flasche. 

Jetzt hört man den Rettungs-Hubschrauber. Er wird immer lauter. „Sie schaffen es. Ja, sie werden es schaffen“, sagt Imke. Und dann lacht sie Marisol an und sagt: „Ich hol dir jetzt dein Bade-Tuch. Das darf ja nicht am Strand bleiben, das schöne Bade-Tuch.“

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