Berta und Lina Vorlesen

05. Jan 2024Christine Paxmann
Die Kunst der Einfachheit 2023 - Stimmt mit ab! Bild: Hardy Kuttner

Die Berta sitzt am Ufer eines Sees. Alle nennen sie die rosige Berta. Sie hat eine Haut wie Marzipan. Wenn sie etwas nicht versteht, rollt sie mit den Augen. Sie versteht ziemlich oft etwas nicht. Aber die Berta weiß genau, wann etwas wichtig ist.

Zum Beispiel, als die kleine Lina so geweint hat. Das war vor einem Jahr. Da ist die Mama von der Lina einfach umgefallen. Genau an Linas Geburtstag. Acht Kerzen brannten auf dem Geburtstagskuchen, als es passierte. A N O R Ü S M A, sagten die Leute. Weder die Lina noch die Berta hatten dieses Wort je gehört. Sie konnten es auch nicht aussprechen. Und auch nicht begreifen. Nur so viel: irgendwas war geplatzt im Kopf von Linas Mama.

Die Lina redet eh nicht mehr nach dem Tod der Mutter. Und Berta würgt immer so lange an schwierigen Wörtern, bis sie zu groß für ihren Mund sind. Dann schluckt sie die Wörter einfach runter.

So wie damals an dem Anorüsma-Tag, als sie die Lina trösten wollte und mit ihr an den See gegangen ist. Aber sie konnte die Lina nur im Arm halten. Lange saßen beide so am Ufer und schaukelten hin und her, weil die Berta wusste, dass ihr der See immer half. Sein Blau, seine glatte Oberfläche und sein Geruch von Wasser und Pflanzen.

Mit dem See konnte sie die Starke sein, auch wenn ihr die Worte fehlten. Berta wiegte Lina im Arm, bis ihre Jackenärmel ganz nass von den Tränen waren. Und bis Linas Vater kam, um sein Kind abzuholen. Es brachte es zurück in das leere Haus. Zu den acht Kerzen auf dem Kuchen, den niemand mehr essen wollte.

Ein Jahr ist es her, dass Lina an ihrem Geburtstag ihre Mama und ihre Stimme verloren hat. Dann ist sie mit ihrem Vater in ein Dorf, weit weg vom See gezogen.

Daran muss die Berta denken, hier an ihrem See. Da geht sie immer hin, wenn etwas zu groß wird. Sie hält die Füße ins Wasser, bis die Zehen weiß werden. Das Wasser kühlt jeden Schmerz.

Manchmal steckt sie ihre Nase noch in ihren Jackenärmel, in den die Tränen der kleinen Lina geflossen sind. Und sie denkt an den Trost, den sie nicht aussprechen konnte.

Die Berta ist so alt wie Linas Mama. Manchmal stellt sie sich vor, die Lina sei ihr Kind. Dann steigt wieder so ein dickes Gefühl auf, an das Schaukeln und Linas Duft.

Berta arbeitet in einer Wäscherei. Da riecht es gut. Dampf steigt auf, wenn Berta bügelt. Der Duft kommt, wenn sich der Dampf verzieht. Sie bügelt ein Stück nach dem anderen glatt. Nach ein paar Stunden liegen weiße Stapel neben ihr. Gefaltetes Leinen. Der Dampf in der Wäscherei ist wie ein weiches Kissen, ein Kissen aus Wasserdampf. Die Berta wird beim Bügeln ganz ruhig. Sie kann sich nicht vorstellen, wegzugehen. Weg vom See und weg von der Wäscherei. An diesen beiden Orten ist Bertas Heimat, da wo es gut duftet. Aber die Berta hat Sehnsucht nach der Lina.

Bald schließt die Wäscherei. Nur zwei Wochen lang wegen Sommerferien. Die Berta war noch nie in Ferien. Auch weil man Duft nicht mitnehmen kann, sagt sie. Sie blickt auf den See, der ihr plötzlich nicht mehr helfen kann, weil das dicke Gefühl wieder aufsteigt. Auf dem Heimweg geht sie an der Bushaltestelle vorbei. Den Fahrplan kann sie ganz gut lesen, weil alle Orte kurze Namen haben: Roth, Moos, Priel, Öd, Wald, Fleck. Fleck ist die Endstation. Da, wo Lina heute lebt.

Zuhause zählt die Berta ihr Geld. Sie hat eine kleine blaue Schachtel, da steckt sie Scheine und Münzen hinein. Die Schachtel ist recht voll, denn Berta verbraucht nichts. Essen gibt es im Gemeinschaftsraum. Und an manchen Tagen genügen ihr auch der Dampf und der Duft.

Berta hat einen Plan. Sie wird nach Fleck reisen. 2 Stunde 37 Minuten mit dem Bus. In Fleck wird sie sich durchfragen nach der Lina. Ein Kind, das nicht spricht, wird jeder kennen.

In dem kleinen Geschäft neben der Bushaltestelle kauft Berta eine Fahrkarte hin und zurück. Und außerdem zwei Postkarten. Eine, da ist der See drauf, blau, leuchtend und mit Ruderbooten. Die andere Postkarte ist ganz blass. Da ist ein altes Haus drauf mit einem Schild: Wäscherei erbaut 1923. Berta staunt. 100 Jahre wird dort gewaschen und gebügelt. 100 Jahre ein Haus voller Wasserdampf. Kein Wunder, warum die Postkarte so blass ist.

Die Postkarten, die Fahrkarte und ein wenig Geld packt Berta in einen Beutel. Auch der trägt die Aufschrift Wäscherei. Die Berta wäscht und bügelt täglich solche Beutel. In ihnen wird die schmutzige Wäsche gebracht. Jetzt wird einer dieser Beutel ihre Reisetasche.

Am nächsten Tag steht Berta eine Stunde vor Abfahrt an der Bushaltestelle. Sie will sicher sein. Vor dort kann sie auch noch einmal über den See gucken. Ab und zu steckt sie die Nase in den Beutel, der nach der Wäscherei duftet. Ab und zu schnuppert Berta an ihrem Jackenärmel, den mit den Tränen von der Lina. Die Jacke hat sie seit einem Jahr nicht gewaschen. Vielleicht kann man Duft doch mitnehmen.

Als der Bus kommt, hat die Berta bereits das Käsebrot und den Apfel gegessen. Es wird ein heißer Tag werden. Im Bus sitzen viele Leute, die nach Roth, Moos, Priel, Öd, Wald oder Fleck wollen. Nach genau 2 Stunden und 37 Minuten hält der Bus mitten in Fleck, auf einem weiten Platz mit einem Brunnen und einer Reihe Kastanienbäumen. Berta steigt als letzte aus und sieht sich um. Es ist Mittagszeit, die Sonne steht hoch. Es riecht ganz anders als da, wo sie herkommt. Niemand ist auf der Straße. Berta wird unruhig. War das eine zu große Reise? Hier ist alles fremd. Sie zieht die Jackenärmel ganz lang, als wollte sie sich verstecken. Sie presst den Beutel vor ihre Brust. Ein Hund bellt. Hühner gackern. Irgendwo jault eine Säge. Berta schwitzt, das mag sie nicht. Sie zieht ihre Jacke aus und stopft sie in den Beutel. Am Brunnen füllt sie ihre Wasserflasche. Die Turmuhr schlägt zweimal. Berta hat einmal einen Film gesehen, da war alles ähnlich. Ein leerer Platz, Glockenschläge, lange Schatten und Heuballen, die der Wind vor sich her gerollt hat. Das war unheimlich und die Berta wolle dann nie wieder einen Film sehen. Jetzt steht sie hier und wirft selbst einen langen Schatten. Ihre Haut ist nicht mehr wie Marzipan, sondern knallrot.

Plötzlich berührt jemand Bertas Arm. Sie fährt herum. Schützt sich hinter ihrem Beutel. Doch da steht die Lina. Lina ist einen Kopf größer als vor einem Jahr und ihre Haare sind dunkler geworden. Sie ist kein kleines Mädchen mehr. An der Leine führt sie einen weißen Hund mit langen Ohren. Die Lina legt den Kopf schief. Der Hund legt auch den Kopf schief. Die Berta löst sich langsam aus ihrer Erstarrung. Dann streichelt sie Lina über den Kopf. Die Lina deutet auf den Hund. Die Berta beugt sich herunter und streichelt auch den Hund. Der Hund wedelt freundlich. Berta möchte etwas sagen, aber alle Worte bilden schon wieder ein dickes Ding in ihrem Mund.

Lina zieht Berta in den Schatten unter den Kastanienbäumen. Der Hund legt sich sofort hin. Die Berta würde sich auch gerne hinlegen. Mit dem Kopf auf ihren Beutel. Auf den Beutel, der nach Wäscherei duftet. Auf die Jacke, die nach der Lina vor einem Jahr duftet.

Sie lassen sich auf eine Bank unter den Kastanien fallen. Dort ist es staubig. Berta würde gerne erst alles sauber machen, aber Lina tastet nach dem Beutel, aus dem Bertas Jacke herausguckt. Sie zieht daran. Mit der Jacke rutschen auch die Postkarten heraus. Sie sind ein wenig zerknittert und Berta streicht sie glatt, würde sie am liebsten bügeln. Dann steckt Lina die Nase in die Ärmel von Bertas Jacke.

Die Berta legt den Arm um die Lina. Auf einmal ist nichts mehr unheimlich auf dem Platz. Die Berta atmet tief ein und aus, sie wiegt hin und her. Die Lina schaukelt mit, dafür ist sie noch nicht zu groß. Erst als der Hund aufsteht und sich schüttelt, hört Berta auf mit Schaukeln. Lina hebt den Kopf aus den Jackenärmeln. Zu den alten Tränen sind neue gekommen. Berta nickt. Wie gut sie das kennt. Trauern über einem Duft.

Sie deutet auf die Postkarten. Die Lina schaut sie lange an.

Von Ferne hört man schon den Motor des Linienbusses, der nun zurück über Roth, Wald, Öd, Priel, Moos, Roth, wieder an den See fahren wird.

Die Berta muss diesen Bus nehmen, sonst kommt sie heute nicht zurück. Sie wird kurz unruhig. Dann steht sie auf, nimmt ihre Jacke und legt sie Lina um. Lina lächelt. Vielleicht lächelt sie das erste Mal seit einem Jahr. Für Berta ist das der Lohn der Reise. Und sie hat etwas gelernt. Heimat kann man mitnehmen, sie kann in einer Jacke, einem Duft, einer alten Postkarte oder in einem Lächeln stecken.

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38 Personen gefällt das

11Kommentare

  • Nina
    05.01.2024 19:36 Uhr

    Wunderschön traurige Geschichte

  • Ruthi
    05.01.2024 19:53 Uhr

    💌

  • Cordula
    05.01.2024 20:58 Uhr

    Eine wunderschöne Geschichte!

  • Cordula
    05.01.2024 21:03 Uhr

    PS: ❤️

  • Katja
    05.01.2024 21:21 Uhr

    Superschöne Geschichte!

  • Gunter Kasper
    05.01.2024 21:40 Uhr

    Eine schöne, klare Geschichte. Gefällt mir sehr gut.

  • Bernd Lauterbach
    05.01.2024 23:54 Uhr

    Es sind die einfachen Worte,
    die einfachen Gesten,
    die Beziehungen,
    die unser Herz berühren.

  • Jens
    17.01.2024 18:11 Uhr

    Text hätte durchweg im Sinne der Einfachheit Verbalstil nutzen können: das “Schaukeln” oder “Trauern” sind im Nominalstil schwieriger lesbar.

  • DreaLa
    18.01.2024 11:27 Uhr

    Ein wirklich schöner Text. Ich kann Berta genau vor mir sehen.

  • Alexandra
    14.02.2024 20:46 Uhr

    Das ist mein absoluter Favorit und Lieblingstext! Würde mich sehr freuen, wenn er gewinnt. Schöne, einzigartige Sprachbilder, die ganz leicht zu verstehen sind und sinnlich reichhaltig, starke Protagonistin, klare Plotführung und unterschiedliche Ebenen auf denen der Text "funktioniert". Vielen Dank für diese gehaltvolle Geschichte in leichten Worten! Ich finde sie großartig.

  • Constanze
    14.02.2024 23:12 Uhr

    Sehr fein erzählt. Nur der Anfang stört mich, weil man da an ein Marzipanschwein denkt.

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