Ich
bin wütend.
Mein Bruder Moritz ist jetzt im Kindergarten.
Ich bin deshalb zu spät.
Die Tür zum Klassenzimmer ist zu.
Wir haben jetzt Englisch.
Ich öffne die Tür.
Ich bin leise.
Ich will zu meinem Platz.
Keiner sieht mich.
Ein Junge sitzt auf meinem Platz.
Ich kenne ihn nicht.
Wer ist das?
„Anas“ sagt er.
Ananas? Das ist eine süße gelbe Frucht.
Ich mag keine Ananas.
Was macht er auf meinem Platz?
Frau Fischer schaut auf.
„Schon wieder zu spät!“, sagt sie.
Ich setze mich neben den fremden Jungen.
„So geht das nicht!“, meint Frau Fischer.
„Ich rufe deine Eltern an!“
„Du kommst immer zu spät!“
Ich sage nichts.
Frau Fischer kann meine Eltern anrufen.
Das interessiert meine Eltern nicht.
Papas Bruder ist sehr krank.
Er ist sein Zwillingsbruder:
Er ist so alt wie Papa.
Und er sieht aus wie Papa.
Onkel Kurt.
Onkel Kurt ist sehr krank.
Papa weint oft.
Er ist immer im Krankenhaus, nie zu Hause.
Mama schimpft oft.
Mama ist viel alleine.
Meine Schwester Sofia, mein Bruder Moritz und ich sind
auch oft alleine.
Mama arbeitet viel.
Anas schaut mich an.
Sein Gesicht ist freundlich.
Ich schaue weg.
Auf einmal ist es laut.
Wir hören ein sehr lautes Geräusch.
Es hört nicht auf.
Ich kenne es.
Es ist der Alarm.
Der Alarm warnt vor Feuer in der Schule.
Heute gibt es kein Feuer.
Das weiß ich.
Zwei Jungen aus Klasse 9 haben das gemacht.
Sie haben das Glas kaputt gemacht.
Der Alarm geht los.
Aus Spaß haben sie das gemacht.
Ich habe sie vor dem Alarm gesehen.
Sie haben gelacht.
Das passiert manchmal.
Dann können alle aus den Klassenzimmern gehen.
Der Unterricht hört dann auf.
Es ist laut.
Ich lache.
Anas lacht nicht.
Er schaut komisch.
Er schaut ängstlich.
Er rennt weg.
Alles ist durcheinander.
Frau Fischer geht mit uns auf den Schulhof.
Dort sind alle Kinder auf dem Hof.
Es gibt kein Feuer.
Das weiß ich.
Wir gehen zurück in die Klasse.
Mein Platz ist jetzt frei.
Anas ist nicht da.
Frau Fischer schaut auf den leeren Platz.
„Wo ist Anas?“, fragt sie.
„Er ist weggerannt“, sagt Emma.
Frau Fischer nickt.
Sie sagt nichts.
"Das verstehe ich“, sagt sie dann.
Ich verstehe das nicht.
Es ist doch nichts passiert!
„Das Geräusch macht ihm Angst“, erklärt Frau Fischer.
„In seinem Land ist Krieg.“
„Das Geräusch erinnert ihn daran.“
Jetzt verstehe ich.
Es ist Pause.
„Sucht ihn bitte!“, ruft sie uns zu.
Auf dem Schulhof ist es laut.
Viele Kinder spielen mit einem Ball.
Ich gehe in den Schulgarten.
Niemand ist hier.
Hinten im Garten steht ein Schuppen -
ein kleines Haus aus Holz.
In dem Haus sind Eimer.
Auch Schaufeln sind darin.
Damit können wir den Garten schön machen.
Das Haus aus Holz ist alt.
Es ist kaputt.
Vor der Tür sind bunte Blumen.
Ich mag das alte Gartenhaus.
Ich gehe oft hierhin –
wenn ich alleine sein will.
Hinter dem Gartenhaus sind Büsche.
Ich kann unter den Büschen sitzen.
Niemand sieht mich dort.
Es ist schön.
Es ist ruhig.
Ich gehe hinter das Gartenhaus.
Da sitzt jemand!
Es ist Anas!
Er sitzt auf meinem Platz unter den Büschen!
Schon wieder!
Er sitzt schon wieder auf meinem Platz!
Jetzt lache ich.
Er schaut weg.
Ich setze mich neben ihn.
Die Büsche kratzen.
Es ist Platz für uns zwei –
hinter dem Gartenhaus,
unter den Büschen.
Wir sitzen nebeneinander.
Wir sagen nichts.
Ich habe Hunger.
Deshalb suche ich in meiner Tasche.
Es gab kein Frühstück.
Es gibt nie Frühstück im Moment.
Mama und Papa sind morgens schon weg.
Ich bringe Moritz zum Kindergarten.
Keiner hat Zeit.
Jetzt schaut Anas mich an.
„Micha“ sage ich. „Hast du auch Hunger?“
Er sagt nichts.
Ich suche weiter in meiner Tasche.
Jetzt sagt er etwas.
Ich kann ihn nicht verstehen.
Er sagt etwas in einer anderen Sprache.
Er schaut mich wieder an.
Jetzt zeigt er auf seinen Mund.
Ich nicke.
Er holt eine Dose aus seiner Tasche.
Er hält sie mir hin.
Er sagt ein schweres Wort.
Ich verstehe es nicht.
Er sagt es noch einmal.
Ich spreche es nach.
Es klingt anders.
Ich lache.
Er lacht auch.
Er gibt mir die Dose.
Er zeigt auf die Dose und meinen Mund.
Ich nicke.
Ich öffne die Dose.
Es riecht gut.
Es riecht süß.
Es sind Kekse, runde Kekse.
Auf den Keksen ist Sesam.
Ich sehe auch grüne Nüsse.
Die kenne ich.
Oma hat sie mir oft gegeben.
Das sind P-I-S-T-A-Z-I-E-N.
Die mag ich.
Anas zeigt auf die Kekse.
Dann zeigt er auf meinen Mund.
Ich esse einen Keks.
Das ist lecker.
Sie schmecken süß.
Er zeigt noch einmal auf die Dose.
Und auf meinen Mund.
Ich esse noch einen Keks.
Das schmeckt gut!
Ich zeige ihm meinen Daumen hoch und sage: „Gut!“
Er freut sich.
Es ist ruhig.
Anas sagt nichts.
Ich sage nichts.
Wir sitzen einfach nebeneinander.
Er hat dunkle Haare.
Meine Haare sind blond.
Seine Augen sind braun.
Meine Augen sind grün.
Wir sagen beide nichts.
Ich hole ein Bild aus meiner Tasche.
Ich zeige es ihm.
Das sind meine Eltern.
Da sind auch meine Schwester Hannah, mein Bruder
Moritz und ich.
Wir lachen alle.
Auf dem Bild sind wir in unserem Garten.
Das Bild ist alt und kaputt.
Anas holt auch ein Bild aus seiner Tasche.
Da sehe ich eine alte Frau und einen alten Mann.
Sie sitzen in der Mitte, an einem Tisch.
Ich sehe auch viele junge Frauen und Männer.
Ich sehe auch viele Kinder.
Alle sind fröhlich.
Er hält das Bild ganz fest.
Jetzt schaut er traurig.
Er sagt etwas in seiner Sprache.
Ich verstehe die Wörter nicht.
Wir halten beide unsere Bilder fest.
Ich schaue auf mein Bild.
Dann schaue ich auf sein Bild.
Mein Zuhause war schön.
Jetzt ist es nicht mehr so.
Das Zuhause von Anas war auch schön.
Jetzt ist es nicht mehr da.
Die Pause ist zu Ende.
Wir stehen auf.
Wir gehen zur Schule zurück.
Anas bleibt stehen.
Er zeigt auf das Gartenhaus.
Er hält seinen Daumen hoch.
Er sagt: „Gut.“
Ich lache.
Er lacht auch.
„Gut“, sage ich auch.
Wir verstehen uns.
Jetzt teilen wir uns die Kekse immer.
Wir teilen uns auch den Platz,
hinter dem Gartenhaus,
unter
den Büschen.
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