Die Brieftasche - Teil 5 Vorlesen

29. Apr 2022Diane Henschel
Eine Brieftasche liegt auf dem Tisch mit einem Zettel. Daraus steht: Wird abgeholt. Daneben steht ein schwarzes Telefon.

Teil 5

Jana Frei erzählt:

Und nun?

Ich starre auf eine ganze Wand voller Post·karten.
Karten, die ich meinen Eltern in all den Jahren geschrieben habe.
Früher war das mein Kinder·zimmer.
Jetzt ist es ein Gäste·zimmer.
Und ich bin der Gast.
24 Jahre bin ich alt
und wohne wieder zu Hause.
Aber was soll ich anderes machen?
Ohne Job und ohne Wohnung.

Neben mir steht mein Reise·rucksack.
Auf dem Fuß·boden liegt Werk·zeug.
Lauter Zeugs von den Jahren auf der Walz.
Vier Jahre war ich als Tischlerin in ganz Europa unterwegs.
Dann kam Corona.
So ein Durcheinander.
Niemand hatte Arbeit für mich.
All die Jahre bin ich von Land zu Land gereist.
Das wurde mit Corona richtig schwierig.
Also bin ich zurück nach Deutschland.
Zurück zu meinen Eltern.

Das Telefon klingelt.
Wird für meine Eltern sein.
Aber die sind nicht da.
Also geh ich ran.

Ein junger Typ ist dran.
Der erzählt was von einem Foto und einer Brief·tasche.
Er arbeitet beim Fund·büro in Hellheim.
Hellheim ist weit weg.
Was will der von uns?
Meine Eltern haben nichts verloren.
Da bin ich mir sicher.
Und in Hellheim waren die auch nicht.

„Das muss ein Irrtum sein“, sage ich.
Wir heißen alle Frei mit Nach∙namen.
Eine Meike Sonnenberg wohnt hier nicht.

Der junge Mann stammelt wirres Zeug.
Er entschuldigt sich wieder und wieder.
Dann legt er auf.

Ich starre das Telefon an.
Was hat der Typ gesagt?
Drei Gesichter auf einem Foto
und auf der Rück∙seite diese Telefon·nummer?

Meike Sonnenberg?
Der Name flattert in mir herum.
Auf einmal sehe ich alles wieder vor mir.

Nächte·lang haben wir damals am Strand gesessen.
Wir haben geträumt, geredet und gelacht bis zum Morgen.
Ferien an der Ostsee.
Geniale Ferien waren das.
Die letzten vor meiner Tischler·lehre.
Gleich am ersten Tag habe ich Meike und Heiner getroffen.
Lauter wilde Ideen hatten wir.
Bei mir ging es immer nur um Holz.
Schon als Kind hatte ich eine eigene Werkstatt im Keller.
Großartige Dinge wollte ich bauen.

„Eine Tischler·lehre, super“,
hat Meike damals gesagt.
„Da kannst du hinterher auf die Walz gehen.“

„Wie? Walz? Was ist das?“,
habe ich gefragt.

„Freiheit und Abenteuer“,
hat Heiner geantwortet.
„Du arbeitest und reist gleichzeitig.
Kannst hingehen,
wohin du willst.
Musst nur eine Werkstatt finden,
bei der du ein paar Wochen arbeiten kannst.“

Tja, ich bin tatsächlich von Land zu Land gereist,
von Tischlerei zu Tischlerei.
War eine aufregende Zeit.
Was Meike und Heiner wohl jetzt machen?

Das Foto ist von unserem letzten gemeinsamen Tag.
Wir haben uns alle in eine Foto·kabine gequetscht.
Alle auf einen kleinen, runden Hocker.
Dann: Blitz, klick. Blitz, klick. Blitz, klick. Blitz, klick.
Vier Fotos voller guter Laune.
Auf ein Foto habe ich meine Telefon·nummer geschrieben.

Aber die beiden haben mich nie angerufen.
Trotzdem hat Meike das alte Foto in ihrer Brief·tasche.
Seltsam.

Gibt es einen Bahnhof in Hellheim?
Plötzlich fühle ich mich ganz kribblig und lebendig.

Im Internet suche ich nach Meike Sonnenberg in Hellheim.
Ich finde zwei M. Sonnenberg und zwei Telefon·nummern.
Bei der ersten Nummer meldet sich ein Michael.
„Entschuldigung,
ich habe mich verwählt“,
sage ich.
Ich lege auf
und wähle gleich die zweite Nummer.

„Meike Sonnenberg.
Ich bin nicht zu Hause.
Bitte sprechen Sie nach dem Piep“,
sagt eine helle Stimme.
Ein Anruf·beantworter.
So eine Pleite.
Was soll ich denn sagen?
Hab mir gar nichts vorher überlegt.

„Hallo, Meike, hier ist Jana“,
fange ich an und weiß nicht weiter.
Plötzlich ein Knacken in der Leitung.
Dann ein Rascheln
und ich höre jemanden tief Luft holen.
„Meike, bist du das?“, frage ich.

Schweigen.
Dann ein sehr leises, erstauntes Ja.

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