Die Brieftasche - Teil 2 Vorlesen

08. Apr 2022Inken Kahlstorff

Teil 2

Ein Unbekannter erzählt:

Gefunden

Da liegt was.
Mitten auf dem Gehweg.
Ein paar Schritte entfernt.
Groß wie eine Hand.
Blass·rot. Und aus Leder.
Das muss eine Brief·tasche sein!

Ich blicke mich um.
Rechts von mir schließt eine Frau ihr Fahrrad auf.
Sie kommt vom Wochen·markt,
aus ihrem Korb ragt eine Stange Lauch.
Zur anderen Seite liegt die Bus·halte·stelle.
Ein paar Leute warten dort:
Einer schaut aufs Handy, einer dem Bus entgegen,
einer kauft am Automaten eine Fahrkarte.

Ich gehe weiter Richtung Halte·stelle.
Ich bücke mich und hebe die Brief·tasche auf.
Blass·rot. Und aus Leder.
Ich stecke die Brief·tasche in meine Jacken·tasche.

Ich blicke noch mal nach rechts und nach links.
Die Frau am Fahrrad,
die Leute an der Halte·stelle:
Keiner hat mich beobachtet.

Ein Bus hält.
Die Leute steigen ein.
Der Bus fährt ab.
Die Halte·stelle ist jetzt leer.
Ich gehe zur Halte·stelle
und stelle mich an den Automaten.
Ich hole die Brief·tasche aus meiner Jacke.
Sie ist mittel·schwer.
Ich öffne sie.

Münzen, eine ganze Handvoll, im Kleingeld·fach.
Ich lange zu und stecke die Münzen in meine Hosen·tasche.
Dann sehe ich die Scheine, blaue und braune.
100 Euro müssen das sein.
Ich will nach den Scheinen greifen,
da sehe ich ein Foto.
Ich nehme es in die Hand.
Zwei junge Frauen und ein Mann lächeln mich an.
Die drei strahlen vor Glück.
Auf der Rückseite steht eine Telefon·nummer.
Ich blicke noch einmal in die Glücks·gesichter
und lächle zurück.

Das Foto stecke ich wieder in die Brief·tasche.
Ich greife die Scheine und ziehe sie raus.
Dann zögere ich und schiebe einen Schein zurück.
Die restlichen Scheine nehme ich
und stopfe sie zu den Münzen in die Hosen·tasche.

Ich blicke mich um.
Die Frau auf dem Rad sehe ich noch weg·radeln.
Sonst ist niemand auf der Straße.
Der Wochen·markt liegt um die Ecke,
von dort kann mich keiner sehen.
Da kommt schon der nächste Bus.
Ich lasse die Brief·tasche auf den Sitz beim Automaten gleiten
und springe schnell in den Bus.

Abends denke ich noch immer an die blass·rote Brief·tasche,
an das Foto und die drei glücklichen Gesichter.
Ich denke daran, wie schwer die Münzen in meiner Hand lagen
und wie die Scheine laut in meiner Hosen·tasche knisterten.
Und erst jetzt fällt mir auf:
Ich habe vergessen, eine Fahrkarte zu kaufen!

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