Der Reise∙Garten
von Anita Liebmann
In meiner Stadt gibt es einen Garten für alle.
Einen Reise∙garten.
Man geht durch ein Tor und reist auf schönen Wegen.
Zu be∙sonderen Pflanzen.
Welche, die sonst nur in anderen Ländern wachsen.
Der Kuchen∙baum aus Japan zum Beispiel.
Seine Blätter duften im Herbst nach Leb∙kuchen.
Man kann auch aus∙ruhen zwischen∙durch auf einer Bank.
Und dann weiter. Zum Hoch∙gebirge.
Oder in den Rosen∙garten.
Auch in ein Gewächs∙haus.
Da haben es die Kakteen so warm wie in der Wüste.
Ich sitze oft auf den Bänken am See.
Bei den Schild∙kröten und Enten.
Die schwimmen so gern wie ich.
Manchmal kommt auch ein Fuchs vorbei.
Der legt sich auf die Wiese und bleibt liegen.
Wenn man ihn in Ruhe lässt.
Dann guckt nur noch seine Lakritz∙nase aus dem hohen Gras raus.
Und weil der Garten für alle ist, trifft man auch alle möglichen Menschen.
Besonders welche, die man vorher noch nicht kannte.
Obwohl sie meist alle in der gleichen Stadt wohnen!
Ich habe zuerst Heide ge∙troffen.
Sie hat ein großes Herz.
Und sie weiß alles über die Enten im See und über die Gefühle von Menschen.
Dann habe ich noch Lore und Walther ge∙troffen.
Sie sind extra∙schlau und wissen auch alles über Füchse.
Und sie sind gern extra∙lieb zu vielen Besuchern.
An manchen Tagen reise ich alleine im Garten.
Aber an manchen bin ich auch mit Menschen dort, die ich vorher schon kannte.
Weil man nicht alle Pflanzen immer nur mit dem Herzen foto∙grafieren kann.
Wenn man alleine auf den Wegen spaziert.
Und gerade der Foto∙apparat zu Hause ist.
Man muss sie auch zusammen be∙suchen.
Mit Freunden.
Oder Pick∙nick mit Schoko∙kuchen auf einer Bank machen.
Die Aus∙sicht genießen.
Und die gute Luft zusammen atmen.
Gemeinsam Urlaub machen ohne zu ver∙reisen ist ganz leicht im Reise∙garten.
Man reist los und kommt auf einmal zu den Zimt∙himbeeren.
Oder zur Gemeinen Knall∙gurke.
Ich finde sie aber über∙haupt nicht gemein.
Die meisten Namen von den Pflanzen hat man noch nie vorher gehört.
Zungen∙kratz∙distel.
Vielleicht ist die ja gemein.
Dann gibt es noch den Erd∙stern und das Nickende Perl∙gras. Auch Atem∙wurzeln findet man.
Aber es gibt immer ein Schild vor oder neben den Pflanzen.
Wo alles drauf∙steht.
Die Pflanzen∙namen kann man sich durch∙lesen oder sich vor∙lesen lassen.
Und dann zusammen schlau sein.
Oder einfach nur glück∙lich, dass man sehen und riechen und fühlen kann.
Im Garten sein ist fast immer wie eine Umarmung aus Grün und Glück.
An normalen Tagen treffe ich Heide, Lore und Walther immer auf der gleichen Bank.
Wir reden viel über lustige Sachen.
Oder machen die lustigen Sachen selber.
Weil in Walthers Kopf ist sehr viel Lustig∙sein drin.
Und das möchte raus.
Es ist genauso gerne an der frischen Luft wie wir alle.
Vor unserer Bank steht übrigens auch ein Schild.
Obwohl die Bank keine Pflanze ist.
Und da stehen dazu noch vier Zahlen.
Die sind zusammen die Zahl von einem Jahr, das noch nicht so lange her ist.
Wir haben gehört, manchmal kommt der Denk∙mal∙schutz vorbei. Das sind Menschen, die auf∙passen, dass alles was alt und schön ist gut be∙schützt wird.
Die Wege, die Gewächs∙häuser und die Pflanzen∙arten.
Dafür gibt es Gesetze.
Durch einen blöden Zufall sind wir nie da, wenn der Denk∙mal∙schutz da ist.
Deswegen wissen wir nicht so genau, ob der Denk∙mal∙schutz unsere schöne alte Bank auch so schön alt findet.
Wir finden es sehr schade, würde sie einfach ab∙gerissen werden.
Ein paar Bänken ist das schon so ge∙gangen.
Dann müssten wir auf dem Fuß∙boden sitzen.
Wie traurig.
Deshalb haben wir schon selber mal nach∙gedacht und über∙legt. Ob wir einfach VOR CHRISTUS hinter die Jahres∙zahl schreiben. Das klingt dann schön alt und der Denk∙mal∙schutz weiß Bescheid.
Wenn wir nicht die Aus∙sicht genießen oder staunen, was so alles in der Welt passiert, denken wir gerne nach.
Über das Klima, das auch jeden Tag neu ge∙schützt werden muss. Oder wir über∙legen uns Koch∙rezepte.
Oft merken wir auch, dass wir mehr Geduld haben müssen als die Probleme.
Das hat Jemand mal auf seinem Tee∙beutel ge∙lesen und dann haben alle ge∙nickt.
Manchmal hören wir auch auf zu denken und schauen, was die Tiere so machen.
Wenn wir so denken und reden, so staunen und schauen, kommen auch manchmal andere Leute vorbei.
Manche kennen wir schon.
Und manche kommen nur einmal in den Reise∙garten.
Wenn jemand kommt, unter∙halten wir uns noch über ganz andere Dinge als sonst.
Und denken auch neu nach.
Franz zum Bei∙spiel kommt immer gern vor∙bei.
Er ist der Älteste von uns.
Bestimmt so alt wie mein Lieblings∙baum.
Franz reist im Garten.
Aber auch viel Drum∙herum.
Jeden Tag.
Deshalb weiß er auch über ziem∙lich viel Bescheid in unserer Stadt.
Franz und ich haben uns schon oft über den neuen Laden in unserem Viertel unterhalten.
Dort werden besondere Lebens∙mittel ver∙kauft.
Welche die vorher auch ein bisschen Denk∙mal∙schutz be∙kommen haben.
Sie werden nämlich nicht einfach in die Müll∙tonne geworfen. Nur weil die Zahl auf der Packung sagt, die Lebens∙mittel können schlecht sein.
Ab∙ge∙laufen heißt das.
Aber können ist ja nicht muss.
Meistens schmecken die Sachen nämlich noch genauso wie vor∙her.
Viele Leute glauben nur an die Datums∙zahl oben drauf.
Das ist gemein.
Dann schmeißen sie ihren Lieblings∙käse oder Lieblings∙pudding schon in den Müll.
Obwohl noch kein Schimmel dran ist.
Dabei brauchen sie bloß den Käse von jeder Seite mal genau an∙schauen.
Der Laden jeden∙falls macht das.
Und dann ver∙kaufen sie die Sachen für viel weniger Geld weiter.
Das ist praktisch.
Für die Lebens∙mittel und für die Käufer.
Franz und ich staunen oft über die Ein∙liter∙packung Sahne oder den Fünf∙kilo∙käse.
Mit der Sahne kann man einen Liter Karamell∙soße kochen.
Der Käse ist so groß und rund wie ein Reifen.
Er passt aber leider nicht in den Kühl∙schrank.
Heide kennt den Laden in∙zwischen auch.
Im Frühling habe ich so ge∙staunt.
Da war schon fast Sommer und die Schokolade vom letzten Weihnachts∙fest und vom letzten Oster∙fest stand neben∙einander im Regal.
Das Datum reicht aus∙ge∙rechnet nicht bis zum nächsten Fest. Deshalb kostet jetzt alles weniger Geld.
Und alle müssen schnell viel Schokolade essen.
Ge∙staunt habe ich noch mehr, als ich viele extra∙große Oster∙hasen sah.
Bestimmt so groß wie mein halber Arm.
Welche von denen hatten den Namen Franz auf ihrer Oster∙hasen∙latz∙hose stehen.
Andere den Namen Paul.
Klar, dass ich im Reise∙garten davon erzählt habe.
Lore und Walther haben sofort ge∙sagt: unbedingt be∙sorgen bitte.
Und dann wurde es ganz schön schwierig.
Hase Franz und Mensch Franz mussten an einem gleichen Tag zu einer gleichen Uhr∙zeit im Reise∙garten auf der Bank sein. Aber die eine Woche war Franz∙mensch nicht ge∙kommen.
Und die andere Woche konnte ich mit Franz∙hase nicht kommen. Dafür war zwischen∙durch ganz viel Sommer ge∙kommen.
Es war so heiß, dass Franz∙hase leicht ge∙schmolzen wäre.
Er musste bei mir in den Kühl∙schrank.
Das ganze obere Fach hat er zum Liegen gebraucht.
Weil er so extra∙groß war.
Ich habe ein Foto davon ge∙macht und es Lore auf ihr Telefon ge∙schickt.
Und weil der Sommer mit seiner Hitze so lang dauerte, merkten wir es mal wieder.
Man musste ge∙duldiger sein als die Probleme.
Ein paar Mal klingelte mein Telefon und Lore war dran:
Nimm schnell Franz aus dem Kühl∙schrank und komm in den Garten.
Aber ich war ent∙weder nicht schnell genug oder konnte gar nicht erst kommen.
Nach sechs Wochen mit jedem Tag Franz im Kühl∙schrank be∙kam ich eines Abends Lust auf Schokolade.
Solche Lust, dass ich zehn Kilo∙meter durch die Nacht gedüst wäre, nur um Schokolade zu bekommen.
Leider war keine andere Schokolade als Franz∙schokolade bei mir in der Wohnung.
Die Geduld war alle.
Ab∙ge∙laufen so∙zu∙sagen.
Was seltsam ist, weil Geduld niemals ein Datum hat.
Die Schoko∙lust∙probleme haben jeden∙falls ge∙wonnen.
Der ganze Franz∙hase war aus meinem Kühl∙schrank in Null∙komma∙nix in meinen Bauch ge∙reist.
Obwohl er extra∙groß war, ging alles ganz schnell.
Extra∙viel habe ich mich dann am nächsten Tag auch ge∙schämt. Ich musste gleich als erstes Heide alles erzählen.
Heide hat immer für jedes Gefühl einen Trost.
Sie hat mir erzählt, bei ihr hält Schokolade immer nur eine Woche.
Und nicht sechs.
Dafür wollte sie gleich wissen, wie ich den Franz ge∙gessen habe.
Die Ohren zuerst hab ich gesagt.
Oh nein.
Doch nicht die Ohren einfach ab∙knabbern.
Der arme Hase.
Ich glaube, Heide kennt sich auch mit Schoko∙hasen aus.
Fürs nächste Mal weiß ich Bescheid.
Zu unserer großen Freude gab es aber in dem Laden noch immer ein paar extra∙große Franz∙hasen.
Heide hat auch einen Extra∙blick in den Laden ge∙worfen, um mal zu schauen.
Ein paar Hasen haben mittler∙weile Geräusche gemacht, wenn man sie ge∙schüttelt hat.
So einen wollte ich für Franz∙mensch auf keinen Fall.
Er sollte ein heiles Geschenk be∙kommen.
Zum Glück gab es noch so einen heilen Franz.
Extra∙Glück.
Puhhhh!!
Mittlerweile war der Sommer nicht mehr extra∙heiß und wir alle brauchten nur etwas Geduld∙ohne∙probleme.
Was sollten denn noch für Probleme kommen?
Heide, Lore und Walther fiel gleich ein Problem ein, das so groß war wie drei.
Was, wenn Franz∙mensch den Franz∙hasen nicht ge∙schenkt be∙kommen möchte?
Geschenke sind so eine Sache.
Ich wusste wie das bei mir war.
Ich teile gerne alles Mögliche.
Also hüpft in mir auch die Freude, wenn ich selbst etwas ge∙schenkt bekomme.
Aber wie ist das bei Franz?
Keiner von uns wusste das so richtig.
Es gab mehrere Möglichkeiten.
Vielleicht be∙kommen wir den Hasen einfach zurück.
Es ist ja noch nicht Ostern.
Oder Franz∙mensch nimmt Franz∙hase an.
Aber die Freude bleibt un∙sicht∙bar.
Das macht Freude oft, wenn sie nicht den richtigen Weg von drinnen nach draußen findet.
Und dann weiß auch keiner so richtig, ob es ein gutes Geschenk war.
Oder die Freude ist echte Freude und lächelt von drinnen nach draußen.
Bis in die An∙ge∙lächelten rein.
Heide kam irgend∙wann auf dem Heim∙weg noch auf eine Idee.
Wir könnten eine Brücke aus Wörtern bauen.
Heide kannte sich auch aus mit Wort∙brücken∙bauen.
Franz konnte ja vielleicht einen Ersatz∙Franz gebrauchen.
Wenn er mal nicht rechtzeitig zum Abend∙brot zu Hause sein konnte.
Dann wäre doch so ein Franz∙hase auf dem Sofa ganz praktisch.
Und dann kam erst der Tag an dem Franz∙mensch, Heide, Lore, Walther und ich auf der Bank saßen.
Aber Franz∙hase wegen neuer Sommer∙hitze zu Hause bei mir im Kühl∙schrank bleiben musste.
Dafür konnten wir Franz fragen, ob er denn einen Ersatz∙Franz ge∙brauchen könnte.
Nur so in der Vor∙stellung.
Und Franz fand die Idee gleich gut.
Also wussten wir Bescheid.
Heides Brücke war extra∙gut.
Das nächste Mal war ich dann erst mit Franz∙hase allein auf der Bank.
Es war doller Sommer∙regen und keiner wollte so richtig reisen.
Oder musste erst∙mal wieder trocknen.
Sogar die Gulli∙deckel hüpften an diesem Tag einfach aus dem Bürger∙steig in die Luft.
Und tanzten auf einem Wasser∙strahl.
Also machte ich ein Foto vom Franz∙hasen auf der Bank.
Hinter ihm waren auch schöne Sommer∙blumen und der See.
Zum Beweis, dass wir da waren.
Oder falls ich wieder plötzlich Lust auf Schokolade bekomme. Wenn der Regen nicht auf∙hört.
Dann irgend∙wann kam doch noch Heide zur Bank.
Und noch später die Sonne wieder am Himmel hervor.
Nimm Franz aus der Sonne, meinte Heide schnell.
Er schmilzt sonst.
Und dann kam der Tag.
Alle die auf der Bank ge∙braucht wurden, waren da.
Wir über∙prüften noch∙mal, ob sich Franz noch an unsere Brücken∙frage vom letzten Mal erinnern konnte.
Und ja, dann war der Moment da.
Franz∙hase und Franz∙mensch be∙gegneten sich.
Heide, Lore, Walther und ich haben vorher noch∙mal extra∙tief Luft ge∙holt.
Und sie dann kurz im Bauch be∙halten.
Und dann sahen wir ein erstes Lächeln.
Und dann noch eins.
Wir atmeten die Extra∙luft aus dem Bauch be∙ruhigt wieder aus. Und dann schnell noch∙mal wieder ein.
Nämlich als Franz∙mensch meinte, jaaa, solch einen Franz∙hasen kennt er schon.
Oooch, dachten wir zuerst.
Nun ist das Geschenk vielleicht kein richtiges Geschenk mehr. Weil ein Geschenk, das man schon hat ja so eine Sache ist.
Bis wir dann er∙fuhren, dass Franz∙hasen bei Franz∙mensch unter Denk∙mal∙schutz stehen.
Seit 20 Jahren schon.
Weil Franz∙hasen gibt es schon viele bei Franz.
Den ersten hat ihm seine Tochter ge∙schenkt.
Dann ist es ja eine ganze Sammlung meinte Heide schnell. Aaach, Sammlung würde Franz das nicht nennen.
Aber er hebt sie halt alle auf.
Sagte er alles lächelnd.
Und immer zu Ostern kommen alle Franz∙hasen raus aus dem Karton.
Und dann atmeten wir end∙lich im normalen Takt.
Franz lächelte noch immer.
Er nahm den Hasen ganz vor∙sichtig in beide Hände.
Schaute ihn ganz lange von jeder Seite an.
Streichelte ihn sanft.
Alles so langsam wie die Schild∙kröten schwimmen.
Lächelte wieder und sagte Danke.
Immer abwechselnd.
Ungefähr elf Mal.
Es gibt immer mehr Möglichkeiten als man sich vor∙stellen kann.
Diese war besonders schön.
Zuviel davon war wunder∙bar.
Und ich habe sie elf Mal mit dem Herzen foto∙grafiert.
Wir alle haben das so gemacht.
Unsere Herzen stehen jetzt auch unter Denk∙mal∙schutz.
Und besonders das von Franz.
Auch Franz∙hase ist es be∙stimmt ganz warm um sein Schoko∙herz geworden.
Und dann hat der echte Franz seine Mütze kurz ab∙ge∙nommen. Das macht er sonst nie.
Auch nicht im Sommer.
Darunter war schnee∙weißes wunder∙schönes Haar.
Beim nächsten Bank∙treffen hatte Franz ein Foto von all seinen Franz∙hasen dabei.
Er hat sie extra alle aus dem Karton ge∙holt.
Obwohl noch nicht Ostern war.
Und dann hat er seine Hand kurz an meinen Arm gelegt.
Bei Franz ist das wie eine extra∙liebe lange Umarmung.