Der Kastanienbaum
Berlin ist eine große Stadt. Eine große Stadt hat viele große, graue Häuser. In den großen, grauen Häusern wohnen viele Menschen.
Früher, als es noch keine große Stadt gab, wohnten die Menschen zwischen Bäumen, Blumen, Wiesen und Feldern. Sie wohnten „auf dem Land“.
Auf dem Land ist es ruhig. Auf dem Land ist die Luft gut. Auf dem Land singen morgens und abends Vögel.
In der Stadt ist es laut und die Luft ist schlecht, weil es so viele Autos gibt. In der Stadt gibt es nur wenig Vögel. Trotzdem wohnen heute viele Menschen in einer großen Stadt.
Das alles weiß jeder. Aber nicht jeder weiß etwas von Herrn Karl!
Herr Karl wohnt in einem großen Haus in Berlin. Wer Herrn Karl besuchen will, muss vier Treppen mit vielen Stufen steigen. Herr Karl kann keine Treppen steigen. Er kann nicht mehr gehen. Ein Auto hatte ihn überfahren. Aber das ist schon lange her. Er sitzt seitdem im Rollstuhl.
Herr Karl wurde vor vierzig Jahren in dem Haus geboren, in dem er noch immer wohnt.
Eine Treppe tiefer wohnt Frau Schmidt. Frau Schmidt besucht Herrn Karl jeden Tag. Sie kauft für Herrn Karl ein. Sie kocht für Herrn Karl. Sie hält Herrn Karls kleine Wohnung sauber. Ohne Frau Schmidt ist Herr Karl hilflos.
Das Haus hat keinen Fahrstuhl. Frau Schmidt trägt Herrn Karl einmal in der Woche bis auf die Straße runter. Sie schiebt Herrn Karl im Rollstuhl zweimal die Straße auf und ab. Danach schleppt sie ihn wieder vier Treppen hoch. Frau Schmidt ist sehr stark. Sie ist eine Gewichtheberin.
Sitzt Herr Karl in seinem Rollstuhl am Fenster, sieht er einen großen Kastanienbaum. Der Baum steht vor seinem Fenster im Hof. Die dicken Äste ragen bis zu Herrn Karl hoch.
Sie ragen sogar noch höher. Bei Sturm kratzen die Äste am Dach. Sieht Herr Karl nur den Baum vor seinem Fenster und nicht die vielen Mülltonnen im Hof, glaubt er, dass er auf dem Land wohnt.
Herr Karl hört im März eine Amsel auf dem Dach gegenüber singen. Er holt Buntstifte und Papier aus der Schublade. Herr Karl zeichnet den Frühling. Jedes Jahr zeichnet Herr Karl den Frühling neu.
Herr Karl öffnet das Fenster. Er hört, wie an den Zweigen dicke, rotbraune Knospen platzen. Aus jeder geplatzten Knospe wächst ein kleines, hellgrünes Blatt heraus.
Herr Karl zeichnet die singende Amsel schwarz und den Schnabel gelb. Die Knospen und Blätter zeichnet er rotbraun und hellgrün. Er zeichnet den ganzen Kastanienbaum. Das Bild ist erst fertig, wenn auf den Zweigen Blüten stehen. Die Blüten duften. Es riecht im ganzen Hof nach Frühling. Die Blüten erinnern Herrn Karl an weiße Kerzen. Herr Karl zeichnet weiße Kerzen in den Baum.
Wenn das Bild fertig ist, schreibt er „Frühling“ darauf und legt es in die Schublade.
Der Frühling dauert nicht lange.
Langsam wird es Sommer. Das sieht Herr Karl an seinem Kastanienbaum. Im Baum summen die Bienen. Die kleinen, hellgrünen Blätter sind nun große, grüne Blätter. Bald fallen die weißen Blüten ab. Dann dauert es nicht mehr lange, bis Herr Karl kleine, runde, grüne Bälle an den Zweigen sieht. Wenn die kleinen Bälle große, stachelige Bälle geworden sind, fallen sie vom Baum. Aber erst wenn der Sommer vorbei ist.
Herr Karl muss sich nicht beeilen, um den Sommer zu zeichnen. Der Sommer ist lang. Herr Karl holt Buntstifte und ein neues Stück Papier aus der Schublade. Er zeichnet große, grüne Blätter und gelbe Bienen. Er zeichnet ein warmes Bild.
Wenn Frau Schmidt zu Herrn Karl kommt, schwitzt sie. Oft hat Frau Schmidt einen Badeanzug an. Dann erzählt sie Herrn Karl vom Wasser.
Wenn das Bild fertig ist, schreibt Herr Karl „Sommer“ darauf und legt es in die Schublade.
Auch ein langer Sommer ist einmal vorbei.
Den Herbst bemerkt Herr Karl so: Die grünen Blätter am Baum sind nun gelb und braun. Der Wind rüttelt an den Ästen. Die Blätter fliegen an Herrn Karls Fenster vorbei. Vom Rütteln fallen die großen stacheligen Bälle in den Hof runter. Die stacheligen Bälle fallen auf die Mülltonnen. Das gibt einen Knall. Die Schale der stacheligen Bälle platzt auf. Es fallen rotbraune, blanke Kastanie heraus.
Als Herr Karl noch ein Kind war, hat er die rotbraunen Kastanien aufgehoben und damit gespielt. Daran muss er jetzt denken.
Auch den Herbst zeichnet Herr Karl. Er zeichnet viele fliegende, braune und gelbe Blätter. Er zeichnet viele rotbraune Kugeln. Das sind die Kastanien, die unten im Hof liegen. Ist das Bild fertig, schreibt Herr Karl „Herbst“ darauf und legt es in die Schublade.
Frau Schmidt schiebt Herrn Karl auch im Herbst die Straße auf und ab. Bläst der Wind von vorn, strengt sich Frau Schmidt beim Schieben an. Dann stöhnt sie und sagt „Puh“. Bläst der Wind von hinten weht der Wind ihr das lange Haar vor die Augen. Dann lacht sie und sagt: „Bald setze ich mir eine Mütze auf!“
Von allen Jahreszeiten mag Herr Karl nur den Winter nicht.
Er mag ihn nicht zeichnen, weil der Schnee so weiß ist wie das Papier.
Will Herr Karl das ganze Jahr zeichnen, muss er auch den Winter zeichnen. Herr Karl nimmt Buntstifte und ein neues Stück Papier aus der Schublade.
Er zeichnet alle Zweige grün und mit gelben Flecken. Er zeichnet kein einziges Blatt an den Baum. An keinem Zweig ist noch ein Blatt. Liegt Schnee auf dem Zweig, zeichnet Herr Karl nur einen Strich. Das ist vom Schnee der Rand. Er zeichnet dicke und dünne Zweige. Jeder Zweig sieht anders aus. Wenn alle Zweige gezeichnet sind, ist das Bild fertig. Herr Karl schreibt „Winter“ darauf und legt es in die Schublade. Herr Karl ist müde vom Winter.
Der Winter ist lang . . . er ist scheußlich lang . . .
Doch ein langer Winter ist auch einmal vorbei.
Herr Karl hört an einem Abend endlich wieder eine Amsel auf dem Dach singen.