Das blaue, blaue Meer
Uta Bierbaum
„Das hier ist meine Heimat“, sage ich zu dir.
Ich sage das lauter als geplant.
Dabei streichle ich deinen Arm.
Ich streichle rauf und runter.
Ich hoffe, dass du deine Meinung änderst.
Deine Meinung ist:
„Lass uns aus Berlin wegziehen!“
Du hast Heimweh.
Du möchtest nach Hause.
Doch dein Zuhause ist ein anderes Land.
Mein Zuhause ist Berlin.
Kacke.
Zu zweit wohnen wir hier schon seit vielen Jahren.
Hier haben wir uns kennengelernt.
Auf einem Straßenfest in Kreuzberg.
Zu dritt wohnen wir hier seit letztem Jahr.
Letztes Jahr haben wir ein Kind bekommen.
Nuri.
🖤
„Vielleicht gefällt es Nuri nicht in deinem Land“, sage ich.
Ich sage das oft.
Meistens lauter als geplant.
Manchmal streiten wir dann.
„Arschgeige!“
„Eiergesicht!“
„Kackvogel!“
Bis einer lacht.
In deinem Land gibt es viel Natur.
Es gibt das Meer.
Und den Strand.
Meist finden Kinder Meer und Strand ziemlich gut.
Ich weiß das.
Ich bin ja nicht blöd.
Kinder können ihre Füße in den warmen Sand stecken.
Sie können Sand-Tiere bauen.
Mit Matsche matschen.
Sich im Sand einbuddeln.
Sich wieder ausbuddeln.
Muscheln finden.
Sie mit nach Hause nehmen.
Und in kleinen Schatz-Kisten verstecken.
Du erzählst mir oft, wie das Meer riecht.
Wenn wir abends im Bett liegen.
Und Nuri schon schläft.
„Es riecht nach Salz! Es riecht nach frischer Luft! Nach
Möwen und Muscheln und Fisch! So riecht es am Meer! Am blauen, blauen Meer!“, sagst du dann.
Ich war noch nie am Meer.
Am blauen, blauen Meer.
Ich weiß, wie es in Berlins Straßen riecht.
Hier riecht es nicht nach Salz.
Die Luft ist stickig.
Es riecht nach Schweiß.
Es riecht nach Kotze.
Es riecht nach Zigarettenqualm und Abgasen.
Vertraute Gerüche, wenn du mich fragst.
Aber du fragst mich nicht.
Du sagst: „Nuri wird das Meer lieben. Das wird seine neue Heimat!“
„Bin ich nicht eure Heimat?“ frage ich dich.
„Doch, doch!“, sagst du.
Du sagst das lauter als geplant.
Dabei streichelst du meinen Arm rauf und runter.
Ich habe Angst vor dem Meer.
Ich habe Angst vor seinen hohen Wellen.
Das Meer ist eiskalt.
Das Meer ist ein Ungeheuer.
Wenn es schlechte Laune hat, verschlingt es dich mit Haut und
Haaren.
Ich habe Angst vor den Tieren im Meer:
Hungrige Haie.
Riesige Wale.
Glitschige Fische.
Giftige Quallen.
Riesen-Kraken.
Wasserschlangen.
Seeungeheuer.
Und alle wollen mich fressen.
Menschen ertrinken im Meer.
Kinder.
Junge Menschen.
Alte Menschen.
Schlechte Schwimmer.
Gute Schwimmer.
Sogar Rettungsschwimmer.
Das Meer ist gefährlich.
Ich kann nicht schwimmen.
Ich gehe nicht mal ins Schwimmbad.
Auch nicht im Sommer.
Ich hasse das Meer.
Dein blaues, blaues Meer.
Wir sitzen in der U-Bahn.
Ich atme tief ein.
Ich mag die stickige Luft.
Vertraute Gerüche.
Wenn du mich fragst.
Die Bahn ist voll.
Die Bremsen quietschen.
Die Türen piepen.
Eine Frau bettelt um Geld.
Die Bahn ruckelt.
Wir müssen uns festhalten.
Das Licht geht kurz aus.
Dann flackert es.
Ich kenne das schon.
Das ist normal.
Nuri liegt im Kinderwagen.
Er weint.
Er mag die U-Bahn nicht.
„Endlich“, sagst du. „Endlich weg hier.“
Ich war noch nie an einem Flughafen.
Der Flughafen ist riesig.
Überall sind Menschen und Koffer.
Ich habe Angst.
Ich habe Angst vor dem Fliegen.
Ich habe Angst vor deinem Land.
Ich habe Angst, dass du dort ein anderer bist.
Weil ich die Sprache nicht verstehe,
die du mit deinen Eltern sprichst.
Weil ich mich nicht auskenne,
in den fremden Straßen.
Und wir vielleicht ertrinken werden,
im blauen, blauen Meer.
„Ich geh nochmal aufs Klo“, sage ich.
„Beeil dich“, sagst du.
„Wir müssen gleich ins Flugzeug einsteigen“.
Ich gehe los.
Und blicke mich nochmal um.
Du hast Nuri auf dem Arm.
Ich sehe dich jetzt von hinten.
Nuris Köpfchen guckt über deine Schulter in meine Richtung.
Er blickt mich an, aus seinen großen Augen.
„Nuri“, flüstere ich.
„Nuri“.
Ich folge den Schildern und finde die Toilette.
Ich gehe in eine Kabine und setze mich auf den Toilettensitz.
So sitze ich da.
Ich blicke auf meine Fingernägel.
Die habe ich gestern noch lackiert.
Blau.
Wie unpassend.
Ich höre die Ansage, die meinen Namen sagt.
„Letzter Aufruf für Passagierin Anna Berger.“
Mehrmals.
„Letzter Aufruf für Passagierin Anna Berger.“
Anna Berger.
Das bin ich.
Ich sollte jetzt aufstehen und mich beeilen.
Das Flugzeug wird ohne mich abfliegen.
Ihr werdet ohne mich abfliegen.
Ich muss schlucken.
Mehrmals.
Ich kann nicht aufstehen.
Ich bin gelähmt vor Angst.
Ein dicker Kloß in meinem Hals lässt mich kaum atmen.
Ich halte mir die Ohren zu.
Ich drücke fester.
Und fester.
Die Geräusche verstummen.
In meinem Kopf wird es schwarz.
Und ich sinke hinab.
Auf den Grund des Meeres,
des blauen, blauen Meeres.
Ich höre meinen eigenen Herzschlag.
Und kriege kaum Luft.
Ich ringe um Atem.
Tränen fallen aus meinen Augen.
Obwohl ich sie zukneife.
Sie laufen einfach über.
Verschwommen ist mein Blick.
Ich schmecke salziges Wasser auf meinen Lippen.
Ich schnappe nach Atem wie eine Ertrinkende.
Ich bin ganz unten.
Bin jetzt ganz unten.
Vielleicht bin ich tot, denke ich.
Etwas vibriert.
In meiner Jackentasche.
Mein Handy
Ich bin nicht tot.
Ich bin noch da.
Ich tauche auf,
vom Meeresgrund.
Bin jetzt wieder in der Klokabine.
Ich blicke auf mein Telefon.
Dort steht eine Nachricht von dir:
„Nuri und ich fliegen allein zu Oma und Opa.
Wir kommen in drei Wochen zurück nach Hause.“
Ich wische mir die Tränen aus den Augen.
„Viel Spaß am Meer“, schreibe ich.
Und:
„Es tut mir leid“.
„Arschgeige“, schreibst du zurück.
Ich muss ein bisschen lachen.