Heute ist Sonntag. Ein ganz besonderer Sonntag.
Und ich bin ganz schön aufgeregt.
Ich war schon dreimal pinkeln. So aufgeregt bin ich.
Gleich treffe ich Kris, Max und Lea.
Dann muss ich zeigen, dass ich mutig bin.
Ich muss eine Aufgabe erledigen.
Eine gefährliche Aufgabe.
„Das ist eine Mut·probe,“ hat Kris gesagt.
Wenn ich mutig bin, dann darf ich in die Gruppe von Kris, Max und Lea.
Und ich will so gerne in ihre Gruppe.
Kris, Max und Lea machen nämlich viel zusammen:
Sie essen Eis.
Sie spielen Tischtennis.
Sie gehen schwimmen.
Sie lesen Comics.
Und sie lachen ganz oft zusammen.
Aber ich bin oft allein. Und das ist langweilig.
Ich wohne auf dem Land. In einem Dorf.
Das Dorf ist schön. Aber es ist klein.
Und es gibt fast nur Häuser zum Wohnen.
In der Dorfmitte sind ein paar Geschäfte, ein Eiscafé und ein Gasthaus.
Es gibt eine Schule für kleine Kinder. Und eine Sparkasse.
Rundherum gibt es viele Felder und Bäume.
Es gibt Wiesen und Blumen.
Aber es gibt nur wenig junge Leute.
Ich bin froh, dass ich arbeite. Von Montag bis Freitag.
Jeden Morgen holt mich ein Bus ab und fährt mich in die Stadt.
Denn in der Stadt ist die Werkstatt, wo ich arbeite.
Dort arbeite ich in der Wäscherei.
Am liebsten falte ich Wäsche. Das macht viel Spaß.
Ich mag auch die großen Wasch·maschinen und Trockner in der Wäscherei.
Sie brummen und surren so schön. Das ist richtig gemütlich.
Am Wochenende hat die Werkstatt zu. Dann arbeite ich nicht.
Dann bin ich zu Hause. Im Dorf.
Dann ist es langweilig.
Ganz besonders am Sonntag.
Ich wohne bei meinen Eltern im Haus.
Mein Zimmer ist im 1. Stock.
Von meinem Fenster schaue ich raus in den Garten.
Manchmal rennt dort ein Kaninchen über die Wiese.
Oder ein Vogel landet auf einem Ast.
Aber meistens passiert nichts im Garten. Gar nichts.
„Such dir doch eine Wohnung in der Stadt“, sagt meine Mutter immer.
„Das ist viel näher an der Werkstatt.“
Und mein Vater sagt: „In der Stadt ist auch viel mehr los“.
Aber ich habe Angst davor, allein zu wohnen.
Ich habe vor vielen Dingen Angst.
Ich habe zum Beispiel Angst, dass ich meinen Haustür·schlüssel vergesse.
Oder dass ich eine Erkältung bekomme.
Ich habe auch Angst vor Gewitter.
Und ich habe Angst vor komischen Geräuschen,
wenn ich nachts im Bett liege.
Und jetzt habe ich auch Angst.
Ich muss nämlich zu dem alten Haus. Hinter dem Wald.
Für die Mut·probe.
Das alte Haus ist gruselig, finde ich. Richtig unheimlich.
Es steht ganz einsam. Weit weg vom Dorf.
Vielleicht gibt es sogar Geister in dem Haus.
„Komm pünktlich“, hat Kris gesagt. „Um Punkt 4 Uhr!“
Er hat auf seine Uhr am Hand·gelenk getippt.
Dann hat er Max leicht in die Seite gestoßen.
Das habe ich genau gesehen.
Kris glaubt nicht, dass ich mutig bin.
Aber ich weiß:
Ich kann mutig sein.
Und ich werde zeigen, dass ich mutig bin.
Ich schaue auf die Uhr.
Bald ist es soweit.
Dann muss ich die Mut·probe machen.
Der Weg zum alten Haus ist lang.
Das alte Haus ist wirklich weit weg.
Es steht ganz am Rand von unserem Dorf.
Erst muss ich durch die großen Felder gehen.
Im Sommer wachsen dort Kartoffeln und Salat.
Aber jetzt ist Oktober und die Felder sind leer.
Als nächstes muss ich über eine kleine Brücke gehen.
Sie ist aus Holz und führt über einen Bach.
Der Bach plätschert leise beim Fließen.
Manchmal sehe ich Fische darin.
Aber heute sehe ich nur das klare Wasser und ein paar Blätter darauf.
Danach muss ich noch ein Stück durch den Wald gehen.
Im Wald ist es dunkel. Und ziemlich kühl.
Ich mache meine Jacke zu und stecke die Hände in die Jackentaschen.
Der Wind pfeift durch die hohen Bäume.
Es knackt und raschelt.
Links und rechts am Weg stehen Büsche.
Ich erschrecke mich, als plötzlich ein großer Vogel vorbei·fliegt.
Dann ist der Vogel im Wald verschwunden.
Ich habe ein komisches Gefühl im Bauch.
Aber ich gehe weiter.
Ich will zeigen, dass ich Mut habe.
Ich muss zeigen, dass ich Mut habe.
Denn ich will in die Gruppe von Kris, Max und Lea. Unbedingt.
Ich überlege:
Was muss ich wohl machen am alten Haus?
Was ist die Mut·probe?
Was hat Kris geplant?
Bin ich mutig genug?
Früher hat auch Tom im Dorf gewohnt. Tom war mein Freund.
Jetzt ist Tom ist weggezogen und wohnt in der Stadt.
Tom war auch mal am alten Haus.
Für eine Mut·probe.
Kris hat zu Tom gesagt:
„Lauf über den Hof!
Lauf 2 Mal im Kreis!“
Aber Tom hat sich nicht getraut.
Ich denke:
Das könnte ich. Über den Hof laufen.
Laufen kann ich nämlich wirklich gut.
Und ich bin schnell. Das ist auch gut.
Vielleicht muss ich nämlich weglaufen.
Weil noch jemand in dem alten Haus wohnt.
Kris sagt, ein reicher Bauer wohnt in dem Haus.
Ein Bauer mit viel Land. Und vielen Pferden.
Und mit einem riesigen Hund.
Kris sagt, der Bauer ist sehr reich.
Sogar Gold hat er. Und das Gold versteckt er im Haus.
Ich denke:
Wenn jemand Gold hat, dann will er es bewachen.
Vielleicht wird der Bauer sauer, wenn ein Fremder über den Hof läuft.
Es ist wirklich gut, dass ich so schnell laufen kann.
Endlich ist der Wald zu Ende und ich sehe das alte Haus.
Es ist riesig, finde ich.
Viel größer als das Haus von meinen Eltern.
Und es steht auf einem großen Hof.
Eine Mauer geht fast ganz um den Hof herum.
Nur vorne ist ein breites Tor.
Das Tor ist offen.
Auf dem Hof steht ein Auto.
Ich sehe auch einen Schuppen und einen Pferde-Stall.
Und ganz hinten ist die Haustür.
Dann entdecke ich Kris, Max und Lea.
Sie stehen draußen im Schatten von der Mauer.
Lea winkt mich herüber.
Sie legt den Zeigefinger auf ihre Lippen.
Ich verstehe:
Ich soll leise sein. Und nicht rufen.
Lea lächelt kurz.
Darüber freue ich mich.
Lea ist nett.
Manchmal treffe ich sie im Dorf.
Dann sprechen wir zusammen.
Jetzt ist Leas Lächeln verschwunden.
Und sie sieht ein bisschen traurig aus.
Vielleicht fühlt sie sich schlecht.
Weil sie eine Krankheit hat.
Bei Leas Krankheit wird man immer schwächer, hat mein Vater gesagt.
Mein Vater ist Arzt.
Ich stelle mich zu Lea, Kris und Max.
Lea fasst mich sanft an die Schulter.
Sie fragt: „Willst du die Mut·probe wirklich machen?“
Ich nicke.
Lea sieht immer noch traurig aus.
Das komische Gefühl in meinem Bauch ist jetzt ganz stark.
Kris sagt: „Bist du bereit?“
Ich nicke wieder. Und schaue Lea an.
Aber Lea schaut auf den Boden.
Kris sagt: „Bist du wirklich mutig?“
Ich nicke noch mal.
Kris sagt: „OK.“
Und dann sagt er: „Geh über den Hof!
Geh bis zur Haustür!
Da hängt ein Regen·mantel.
Schnapp dir den Regen·mantel!
Und komm damit zurück!“
Mein Herz klopft plötzlich ganz schnell.
Kris will, dass ich etwas stehle!
Ich denke: Das darf man nicht.
Und was passiert, wenn der Bauer die Tür aufmacht?
Oder wenn der Hund kommt und bellt?
Die Haustür ist ziemlich weit weg vom Ausgang am Hof·tor.
Kann ich so schnell rennen?
Ich schaue zu Lea.
Aber Lea schaut immer noch auf den Boden.
Sie malt mit dem rechten Fuß Kreise auf die Erde.
Ich mag ihre kleinen Füße.
Und ich mag Lea.
Ich glaube, ich bin ein bisschen verliebt in sie.
Kris knufft mich gegen die Schulter.
Er grinst. Und fragt:
„Hast du Angst? Bist du zu feige?“
Ich stelle mich ganz gerade hin.
Und sage: „Nein. Ich bin mutig.“
Kris sagt: „Dann zeig es!“
Mein Herz klopft nun bis zum Hals.
Ganz schnell. Und laut.
Das denke ich jedenfalls.
Vielleicht man kann mein Herz klopfen hören.
Ich habe wirklich Angst. Trotzdem gehe ich los.
Ich gehe ganz langsam bis zum Hof·tor.
Da bleibe ich kurz stehen.
Ich lausche.
Aber ich kann nichts hören. Alles ist ganz still.
Nur mein Herz klopft so schrecklich laut.
Dann betrete ich den staubigen Hof.
Schritt für Schritt gehe ich vorwärts.
Ich komme an dem Stall vorbei. Auch dort ist es ganz leise.
Es sind keine Pferde darin. Der Stall ist leer.
Ich bleibe wieder kurz stehen.
Ich halte die Luft an. Und lausche.
Nichts. Ich höre immer noch nichts.
Ich habe Angst, dass der riesige Hund plötzlich um die Ecke rast.
Große Hunde sind schnell.
Bin ich wirklich schneller?
Meine Beine zittern.
Und meine Knie wackeln.
Trotzdem gehe ich weiter.
Ich denke: Ich muss jetzt mutig sein.
Ganz langsam schleiche ich zum Haus hinüber.
Ich kann Licht sehen. Eine Lampe ist an.
Mir wird ein bisschen schlecht.
Ich denke: Mist!
Der Bauer ist zu Hause!
Hoffentlich kommt er nicht raus!
Meine Angst wird größer.
Meine Hände sind ganz feucht.
Ich wische sie an meiner Jeans ab.
Schritt für Schritt schleiche ich bis zur Hauswand.
Ich stehe jetzt genau unter dem Fenster, wo das Licht ist.
Ich stehe etwas gebückt.
So kann der Bauer mich nicht sofort sehen.
Ich halte die Luft an. Mein Herz pocht und pocht.
Dann hebe ich ganz langsam den Kopf und schaue in das Fenster hinein.
Ich sehe ein Wohnzimmer.
Ein Sofa.
Ein Schrank.
Ein Tisch.
Ein Fernseher.
Ein Bücher-Regal.
Eine Stehlampe.
Alles ist ganz normal.
Aber die Möbel sehen alt aus. Und kaputt.
Die Lampe steht schief.
Der Tisch sieht wackelig aus.
Das Sofa ist schmutzig.
Und der Bauer sitzt auch nicht auf dem Sofa.
Er sitzt in einem Rollstuhl.
Ich sehe den Bauer nur von der Seite.
Aber ich erkenne: Er ist sehr alt.
Und vielleicht ist der Bauer auch krank.
Auf jeden Fall kann er nicht mehr gehen.
Oder nicht mehr so gut.
Jetzt sehe ich auch den Hund.
Aber der Hund ist auch ganz anders, als ich dachte:
Er ist sehr klein.
Er liegt zusammen·gerollt auf einer Decke und schläft.
Einen Moment lang freue ich mich.
Ich denke:
Das ist ja ganz leicht, den Regen·mantel zu holen.
Und wenn der kleine Hund wach wird, dann bin ich ganz bestimmt schneller als er.
Und schneller als der Bauer bin ich sowieso.
Wenn ich den Regen·mantel hole, dann habe ich allen meinen Mut gezeigt.
Dann habe ich die Mut·probe bestanden.
Und ich bin in der Gruppe.
Dann treffe ich Lea jedes Wochenende.
Aber dann schaue ich noch einmal in das Wohnzimmer.
Ich sehe den alten Bauer und die kaputten Möbel.
Und ich denke:
Das mit dem Regen·mantel ist nicht richtig.
Denn der Bauer ist alt und krank.
Und er ist ganz bestimmt nicht reich.
Bestimmt braucht er den Regen·mantel.
Und es ist falsch, wenn ich ihn wegnehme.
Nur wegen der Mut·probe.
Das ist sogar richtig gemein.
Ich will das nicht machen.
Ich bücke mich wieder.
Dann schleiche ich gebückt an der Hauswand entlang.
Ganz langsam und ganz leise.
Bis zur Ecke.
Und dann weiter bis zur nächsten Ecke.
Von dort renne ich über den Hof zurück zum Tor.
Am Hof·tor stehen Kris, Max und Lea. Sie warten auf mich.
Kris schaut auf meine leeren Hände.
„Wo ist der Regen·mantel?“, fragt er.
Ich bin ganz außer Atem und schüttel nur den Kopf.
Kris sagt: „Du hast dich also nicht getraut!“
Ich bin immer noch ganz aufgeregt und kann gar nicht sprechen.
Kris grinst. Dann lacht er fies.
„Du bist nicht mutig“, sagt er. „Du bist ein Angst·hase.“
Ich schüttel wieder den Kopf und sage:
„Nein. Ich bin mutig.
Aber der Bauer ist arm.
Er braucht den Regen·mantel.“
Kris sagt: „Nein. Du hast du die Aufgabe nicht erledigt.“
Ich schüttel nochmal den Kopf.
Das ist nicht fair, finde ich.
„Aber ich war da“, sage ich.
„Ich bin über den Hof gegangen.
Bis zum Haus.
Ich hab sogar ins Wohnzimmer geschaut.“
Kris schüttelt den Kopf.
„Wenn du wirklich Mut hast, dann geh zurück!“, sagt Kris.
„Hol den Regen·mantel!“
Plötzlich klopft mein Herz wieder ganz doll.
Noch viel doller als vorhin.
Ich hole tief Luft und sage:
„Nein. Das mach ich nicht.“
Kris macht ein böses Gesicht.
„Dann hast du die Mut·probe nicht bestanden“, sagt er.
Ich fühle, wie sich mein Herz in meiner Brust zusammen·zieht.
Ich bin enttäuscht.
Aber auch ein bisschen ärgerlich.
Und dann fühle ich, wie mein Ärger immer größer wird.
Am Ende kann ich gar nichts mehr sagen. So ärgerlich bin ich.
Ich drehe mich um und gehe.
Beim Gehen trete ich ganz fest auf, weil ich so ärgerlich bin.
Ich denke:
Das ist unfair.
Das ist ungerecht.
Ja, das ist richtig mies.
Ich bin schon fast am Wald angekommen. Da höre ich Leas Stimme.
Lea läuft hinter mir her.
„Bleib doch mal stehen“, ruft sie.
Aber ich gehe weiter.
Ich bin immer noch sauer.
Und enttäuscht.
Aber irgendwie auch froh.
Und auch traurig.
Alles gleichzeitig.
„Das war ganz schön mutig von dir“, ruft Lea.
Sie ist jetzt fast schon bei mir.
Ich bleibe stehen und drehe mich um.
Was meint Lea?
Lea sagt:
„Das war wirklich mutig von dir.
Du hast nein gesagt.
Nein zu Kris.
Und nein zu seiner blöden Mut·probe.
Ich finde, du hast alles richtig gemacht.“
Lea kommt noch ein Stück näher.
„Du hast nämlich Recht“, sagt sie.
„Der Bauer ist arm und er braucht den Regen·mantel.“
Ich fühle, wie mein Gesicht ganz warm wird bei Leas Worten.
„Und weißt du, was ich ganz besonders stark finde?“, sagt Lea dann
noch.
Ich schüttel den Kopf.
„Dass der arme Bauer am wichtigsten für dich war.
Wichtiger als unsere Gruppe.
Und dass du mit uns sonntags zusammen sein kannst.“
Wir gehen wieder los. Nebeneinander und still.
Wir gehen in den Wald hinein.
Ganz lange redet keiner von uns beiden.
Irgendwann frage ich Lea dann aber doch:
„Kann ich denn jetzt in eure Gruppe?“
Lea bleibt stehen.
Sie sieht überrascht aus.
„Was willst du denn in unserer Gruppe?“, fragt sie.
„Du ziehst doch sowieso bald in die Stadt.
Und in eine eigene Wohnung.“
Ich antworte nicht.
Ich muss erst ein bisschen nachdenken.
Das mache ich, als wir durch den Wald gehen.
Und auch noch, als wir über die Brücke gehen.
Und bei den Feldern denke ich dann:
Stimmt.
Jetzt kann ich wirklich allein in eine Wohnung ziehen.
Und in die Stadt.
Da ist sowieso viel mehr los.