Mein Taschen-Tuch
ist ganz nass.
Von meinen
Tränen.
Vor einer
Woche ist mein Vater gestorben.
Er ist ganz
plötzlich gestorben.
Herzinfarkt.
Heute wurde
mein Vater beerdigt.
Meine Mutter
weinte.
Meine
Schwestern Anna und Ronja weinten.
Meine Oma
weinte.
Mein Vater
ist nur 58 Jahre alt geworden.
Wir durften
keine große Beerdigung machen.
Wegen Corona.
Niemand
durfte singen.
Wegen Corona.
Wir durften
uns nicht in den Arm nehmen.
Wegen Corona.
Obwohl wir
eine Familie sind.
Ich habe
meinem Vater nie gesagt, dass ich ihn lieb habe.
Ich habe
meinem Vater nie gedankt.
Er hat mich
in der Schule unterstützt.
Er hat mich
in der Lehre unterstützt.
Er hat mir
geholfen, eine Wohnung und eine Arbeit zu finden.
Er war immer da,
wenn ich ihn brauchte.
Jetzt kann
ich nie mehr Danke sagen.
Meine Augen
brennen.
Meine Nase
schmerzt.
Mein Bauch
ist in Aufruhr.
Wie kann mein
Vater einfach tot sein?
Von heute auf
morgen?
Wir wollten
doch am Sonntag zusammen wandern.
Wir lieben
den Wald.
Wir lieben
es, Pilze oder Heidelbeeren zu sammeln.
Wir lieben
besonders die kleinen Wege, auf denen wir ganz alleine sind.
Der Wald ist
immer schön. Egal zu welcher Jahres-Zeit.
Meinem Vater
gehört sogar ein Stückchen Wald. Er darf Bäume fällen.
Ich habe
meinem Vater immer mit dem Holz geholfen.
Sägen und
Hacken.
Meine Eltern
haben einen Kamin-Ofen.
Im Winter
haben sie mich oft eingeladen.
Wir haben am
Kamin gesessen und Zimtäpfel gegessen.
Wir werden
nie mehr zusammen am Kamin sitzen.
Wir werden
nie mehr zusammen Zimtäpfel essen.
Wir werden
nie mehr zusammen wandern oder in ein Konzert gehen.
Ich bin so
traurig.
Mein Vater
ist einfach nicht mehr da.
„Sei nicht
traurig“, sagt meine Mutter. Sie weint nicht mehr.
„Ich bin
froh, dass es so schnell ging. Ich bin froh, dass er keine Schmerzen hatte.
Einfach tot, so möchte ich auch sterben.“
Ist meine
Mutter nicht traurig?
„Hör auf zu
weinen“, sagt meine Großmutter. Sie weint nicht mehr. „Männer weinen nicht!“
Warum nicht?
Ich bin
traurig.
Ich kann
nicht anders.
Ich muss
weinen.
„Es ist gut,
dass du weinst“, sagt meine Schwester Ronja.
Ich wollte
meinen Vater im Wald begraben.
Meine Mutter
wollte meinen Vater auf dem Fried-Hof begraben.
Meine
Schwestern Anna und Ronja auch.
Jetzt ist
mein Vater auf dem Friedhof begraben.
Morgen ist
das Grab fertig.
Dann werde
ich auf dem Grab eine ganz kleine Eiche pflanzen.
Morgen, nach
der Arbeit.
Ich bin
Gärtner.
Wenn das
Wetter trocken ist, mag ich meine Arbeit. Dann darf ich pflanzen, hacken und
Rasen mähen.
Wenn die
Sonne scheint, liebe ich meine Arbeit.
Wenn es
regnet, muss ich Pflanzen verkaufen.
Wenn es
regnet, mag ich meine Arbeit nicht.
Kann ich
morgen überhaupt arbeiten?
Auf der
Arbeit darf ich nicht weinen.
Die
Beerdigung ist vorbei.
Wir trinken
Kaffee und essen Butterkuchen.
Danach muss
ich nach Hause fahren.
Ich muss
schon wieder weinen.
Ich hole ein
neues Taschen-Tuch heraus.
Ich kann
nicht nach Hause fahren.
In meiner
Wohnung bin ich ganz alleine.
Wer kann mir
helfen?
Mein Vater
kann mir nicht mehr helfen.
Er ist tot.
Jetzt fragt
meine Schwester Anna:
„Möchtest du
diese Nacht bei uns schlafen?“
Meine
Schwester Anna ist Lehrerin.
Meine
Schwester Anna hat einen netten Mann und einen Hund.
Der Hund
heißt Anton.
Anna legt mir
die Hand auf die Schulter.
Ich sage:
„Ja, ich möchte gerne bei dir schlafen.“
Dann bin ich
heute Nacht nicht allein.
Dann kann ich
Anton streicheln.“
Meine Mutter
fährt meine Großmutter nach Hause.
Meine
Schwester Ronja geht zur S-Bahn.
Anna und ich
sind allein.
Anna geht zu
ihrem Auto.
„Ich bin doch
auch so traurig, Malte“, sagt sie.
„Können wir
noch einen kurzen Spaziergang durch unseren Wald machen?“, frage ich.
Anna sagt ja.
Wir fahren
zum Wald.
Es dämmert
schon.
Wir gehen
los.
Auf der
ersten Lichtung steht eine große Eiche.
Ich lehne
mich an den Stamm.
Ich schließe
die Augen.
Fast kann ich
meinen Vater sehen.
Dies ist sein
Lieblingsbaum.
Nein, dies
war sein Lieblingsbaum.
Er duftet wie
mein Vater, wenn er aus dem Wald kam.
Ich muss
weinen.
Gleich-zeitig
fühle ich mich getröstet.
Mein Vater
ist tot.
Aber an
diesem Baum kann ich ihn spüren.
In diesem
Wald kann ich ihn spüren.
Ich werde am
Sonntag alleine wandern.
Dann kann ich
an meinen Vater denken.
Ich werde
meiner Mutter das Holz hacken.
Dann kann sie
weiter den Ofen heizen.
Der Wald, ist
der Ort, wo ich meinem Vater immer nahe bleiben werde.
„Wir können fahren, Anna“, sage ich.